Jeder kennt und verwendet zwar heute das Wort Design, aber nur wenige wissen wirklich, was es bedeutet. Und wie Design entsteht. Der Versuch einer Erklärung.
Der Designbegriff befindet sich seit einiger Zeit in einem fundamentalen Wandel. Bis in die 1970er-Jahre hinein wurden Designer noch als «Formgeber» bezeichnet, die Dinge schöner machen. Lange prägte dieses Verständnis: Man verband Design mit schönen Dingen und anderen Luxusobjekten.
Heute hat die Designdisziplin enorm expandiert, was sich unter anderem daran zeigt, dass 24’610’000’000 Einträge erhält, wer den Begriff bei Google eingibt. Es werden Nahrungsmittel, Interfaces, Games, reale und virtuelle Räume, Systeme, Prozesse, Lebenswelten und Lebensstile designt.
Aus einer anthropologischen Perspektive steht Design zuerst einmal für die Aufwertung des Neuen: Es ist weder Handwerk noch Kunsthandwerk, bei dem traditionelle Fertigungstechniken reproduziert werden. Design verändert, adaptiert und interveniert, wobei Traditionen als Inspirationsquellen fungieren können.
Design bezieht sich also auf etwas bereits Gegebenes, von dem es sich unterscheiden muss. Oder auf ein Problem, das es lösen möchte. Design bringt so eine Diskontinuität in die Welt, weshalb der Soziologe Bruno Latour der Disziplin gar revolutionäre Kräfte zuschreibt.
Verhalten der Menschen beobachten
Der Referenzpunkt von Design ist ein bestimmter Ausschnitt einer gesellschaftlichen Lebenswelt: Ob jemand sich mit der Frage beschäftigt, wie die Lebenswelten von Menschen mit Demenz neu gestaltet werden können, wie sich die kulturelle Akzeptanz für künstliches Fleisch erhöhen lässt oder wie sich Arbeitskontexte neuen sozialen Gegebenheiten anpassen werden: Weil Designerinnen und Designer projektspezifisch arbeiten, erfordert und erzeugt ihre Praxis stets ein spezifisches Wissen.
Zugleich steht die Designdisziplin im Austausch mit anderen Disziplinen; etwa mit Technik- und Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Betriebsökonomie, mitunter auch mit Spezialbereichen wie der Gastronomie oder den Gesundheitswissenschaften. Design ist zu einer interdisziplinär vernetzten «Wissenskultur» geworden, wie es die Designtheoretikerin Claudia Mareis formuliert.
Dieses Wissen lässt sich zum Teil durch theoretische Lektüre aneignen: Wer für Menschen in bestimmten Lebenswelten designt, muss dorthin gehen und ihr Verhalten vor Ort beobachten. Er muss mit den Menschen sprechen und zugleich mit Designlösungen intervenieren.
Das entsprechende Verfahren heisst Ethnografie; es wurde vor etwas über 100 Jahren als Methode in die Anthropologie eingeführt. Die Methode basiert darauf, dass man sich körperlich in eine andere Lebenswelt begibt und dort das Verhalten der Menschen beobachtet.
Eintauchen in fremde Welten
Die meisten Designprojekte finden in «der eigenen» Gesellschaft statt und die Recherche dauert nicht zuletzt aus zeitökonomischen Gründen deutlich kürzer als in der klassischen Anthropologie, wo Forschende oftmals Jahre in anderen Gesellschaften verbringen.
Aber was bedeutet dies eigentlich, die «eigene Gesellschaft»? Schon die soziologische Chicago School hat in den 1920er-Jahren festgestellt, dass das moderne Stadtleben pluralistisch ist: Ein paar Häuserblocks weiter oder im nächsten Hinterhof befindet sich eine andere Welt. Für Designer und Designerinnen bedeutet dies: Eintauchen in fremde Welten, die territorial sehr nahe, aber kulturell weit entfernt sind.
Die Designethnografie möchte Einblicke in eine bestimmte Lebenswelt erlangen und untersuchen, wie Menschen dort interagieren, wie sie kommunizieren und was sie wissen. Wissensbestände variieren fundamental in unterschiedlichen Lebenswelten: In einem Chemie-Labor wird die Welt anders gedeutet als in einer evangelikalen Freikirche. In einem Box-Club wird eine andere Kultur praktiziert als in einer Salsa-Schule, in einem veganen Restaurant eine andere als in einem Schlachthaus, in einer Primarschule eine andere als in einem Altersheim.
An all diesen Orten gibt es gänzlich unterschiedliche Werte, Wissensbestände, Verhaltensweisen und Identitätskonzepte. Menschen in modernen Gesellschaften bewegen sich in einer Vielzahl solcher Lebenswelten, die, wie die Soziologin Benita Luckmann feststellt, oftmals voneinander entkoppelt sind. Es sind in all diesen Lebenswelten auch unterschiedliche Dinge – also eine materielle Kultur – vorhanden, oder dieselben Dinge haben variable Bedeutungen.
Das Problem bei diesem Verfahren besteht nicht zuletzt darin, dass wir die Dinge vorschnell deuten und sie nach Alltags- und Common-Sense-Wissen verorten. Ethnografisch zu recherchieren bedeutet, ganz genau hinzuschauen, eine künstliche Distanz zu suchen und alltägliche Gewissheiten ausser Kraft zu setzen.
Vertraute Dinge anders sehen
Partizipative Methoden sind dabei hilfreich, bei denen Menschen nicht nur beobachtet, sondern in die Recherche einbezogen werden. Das geht mit den so genannten Cultural Probes, einer Methode, die der Designer Bill Gaver zusammen mit Tony Dunne und Elena Pacenti entwickelte: Dabei werden Menschen zum Beispiel mit Briefings aufgefordert, Fotos über ihre Lebenswelten zu produzieren, Tagebücher zu verfassen oder auf Stadtplänen bedeutende Orte und Routen einzutragen. So werden die Perspektiven und Wirklichkeiten anderer Menschen dokumentiert.
Mit solchen partizipativen Methoden versucht die Designethnografie, die Perspektiven auf unsere Alltags- und Lebenswelten zu erweitern. Sie möchte möglichst viel Informationen aus bestimmten Lebenswelten sammeln, diese ordnen und kategorisieren und daraus ein Mosaik einer Lebenswelt herstellen. Sie versucht, vertraute Dinge anders zu sehen, sie zu dekomponieren und im Singulären nach neuen Perspektiven und Sinnzusammenhängen zu suchen.
Zur Person: Francis Müller
Francis Müller ist promovierter Kultursoziologe, Dozent in der Fachrichtung «Trends & Identity» an der Zürcher Kunsthochschule und Gastprofessor an einer Universität in Chile. Sein Lehrbuch «Designethnografie: Methodologie und Praxisbeispiele» ist beim Springer-Verlag in Wiesbaden erschienen.
Coco – der Engel aus Bern, den die Welt nicht verstand
Coco – der Engel aus Bern, den die Welt nicht verstand
Performance-Künstlerin, selbstbekennende transsexuelle Anarchistin, Macho-Frau, seelisch Heimatlose, Model, Lieblings-Zielscheibe der Schweizer Boulevardpresse – Coco.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Olivier G. Fatton begegnete Coco im November 1989 zum ersten Mal. Dieser «lichte und doch so schwermütige Engel» faszinierte den Fotografen vom ersten Moment an.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Bei einem Kaffee in einem Berner Schwulenlokal schliessen sie einen fotografischen Vertrag: Coco posiert für ihn und dafür dokumentiert Fatton ihre Geschlechtsanpassung.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Aus dem Pakt wurde eine Liebesbeziehung, in deren Verlauf Fatton zahlreiche Aufnahmen von Coco machte. Intime Porträts, ...
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
... inszenierte Modefotografie, zuhause, unterwegs, in Clubs und in den Bergen zeigen die zahlreichen Facetten der schillernden Coco.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Und immer wieder diese grossen, melancholischen Augen. Ihre Augen seien ihr zweiter Mund geworden, sagte Coco einmal.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Und weil ihre tausendseitige Autobiographie von Dieben gestohlen wurde, erzählen uns diese Augen vom Leben einer Kameliendame des 20. Jahrhunderts – im Bildband «Coco», der dieser Tag erschienen ist.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
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