Bauruinen Was bleibt, wenn Projekte kolossal scheitern? Diese Bilder zeigen es

Von Bruno Bötschi

5.5.2020

Ein ungenutztes Stadion. Eine Autobahnbrücke, die ins Leere führt. Eine halbleere Ferienanlage. Adrian Rheinländer fotografiert Orte, an denen grosse Pläne gescheitert sind.

Herr Rheinländer, wann sind Sie zuletzt gescheitert?

Vor zwei Wochen wollte ich eine unfertige Autobahnbrücke fotografieren. Leider hat mir an dem Tag das Wetter einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich musste unverrichteter Dinge wieder abziehen.

Was denken Sie: Machen Niederlagen einen Menschen stärker?

Grundsätzlich ja – aber natürlich kommt es sehr darauf an, wie man später mit der Niederlage umgeht.

Sie fotografieren seit über zwei Jahren Orte, an denen grosse Bauprojekte unvollendet geblieben sind. Wie ist Ihr Projekt «Ästhetik des Scheiterns» entstanden?

Gescheiterte Grossprojekte faszinieren mich seit meiner Kindheit. Als Teenager fuhr ich regelmässig mit dem Velo an einem Atomreaktor am Rhein vorbei, der nur ganz kurz in Betrieb war. Diese Ruine hatte auf mich immer eine spezielle Anziehungskraft – und so kam mir irgendwann die Idee, noch mehr gescheiterte Projekte zu suchen und diese zu fotografieren.

Zur Person: Adrian Rheinländer
Bild: zVg

Es gab eine Zeit, da fotografierte Adrian Rheinländer vor allem Tiere. Einer seiner Ausflüge endete jedoch damit, dass er eine Nacht auf einem Baum verbrachte, während unten die Löwen knurrten. Das nächste Projekt führte ihn nach Berlin – in die Kleingartenanlagen der Stadt: Zwischen der Autobahn und Zuggleisen porträtierte er die Pächter der Parzellen und fand bald heraus, dass er sich viel mehr für Menschen als für Tiere interessierte. Es folgten Projekte in Europa und Südamerika und sein Langzeitprojekt «Ästhetik des Scheiterns», an dem er seit 2018 arbeitet. Rheinländer studierte an der Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin.

Brachliegende Flughäfen, ungenutzte Sportstadien, kaputte Brücken – was fasziniert Sie an Orten, die wahrscheinlich von vielen Menschen als «hässlich» angesehen werden?

Scheitern ist nicht hässlich – und deshalb empfinde ich diese Orte auch nicht als unschön. Für mich haben sie vielmehr einen besonderen und sehr individuellen Charme.

Geht es bitte etwas konkreter?

Manche dieser Orte liegen seit Jahren brach. Sie sind sich selbst überlassen und deshalb oft zugewachsen. Andere Orte wurden dagegen umgenutzt, etwa das Kraftwerk Kalkar am Niederrhein. Einst als Atomkraftwerk gebaut, das nie ans Netz ging, dient die Anlage heute als Freizeitpark. Ähnlich ergangenen ist es dem Schwimmbad «Tropical Island» in der Nähe von Berlin. Die grösste freitragende Halle der Welt war ursprünglich für die Unterbringung grosser Luftschiffe gedacht, wird aber seit 2004 als Freizeitpark genutzt. Ein unverhofftes Happyend.

Egal, ob Ruine oder Umnutzung: Für Sie scheint beides interessant zu sein.

Mich interessiert, wie mit diesen Orten des Scheiterns umgegangen wird. Lernen die Menschen etwas daraus? Sorgt das Scheitern dafür, dass künftige Projekte anders angegangen werden oder macht man später wieder die gleichen Fehler? Auf meinen Bildern sind oft keine Menschen zu sehen und trotzdem sagen sie viel über unsere Gesellschaft aus.

In der Wissenschaft ist das Scheitern ein wesentlicher Bestandteil des Erkenntnisgewinns. In der Architektur auch?

Die Objekte, die ich fotografiere, sind die Überreste von gescheiterten Ideen. Wer diese Bauwerke ansieht und auf sich wirken lässt, kann über das Scheitern im Allgemeinen nachdenken und Rückschlüsse auf das eigene Leben ziehen. Das finde ich spannend. Mein Projekt hat also eine gesellschaftliche Ebene, aber auch eine sehr persönliche. Angefangen habe ich einst mit Grossprojekten, heute fotografiere ich aber auch kleinere Bauruinen.



Die Gründe für das Scheitern eines Bauwerkes sind vielfältig. Gibt es Objekte, die Sie ganz besonders faszinieren?

Extrem spannend finde ich den Stanley R. Michelsen Safeguard Complex in Nemoka, North Dakota, USA. Diese Anlage wurde Mitte der 1970er-Jahre errichtet, um sowjetische Interkontinentalraketen im Weltall abzufangen. Der Bau von sechs miteinander verbundene Raketenstationen kostete fünf Milliarden Dollar – nach heutiger Kaufkraft wären das rund 24 Milliarden Dollar. Nur einen Monat, nachdem das Abwehrsystem in Betrieb genommen worden war, entschied der US-Kongress, dass die Anlage abgestellt und geschlossen werden solle.

Wieso wurde sie nur einen Monat lang genutzt?

Offiziell wurde behauptet, die politische Situation mit der Sowjetunion habe sich verbessert und man wolle stattdessen in der Zukunft auf die Karte «Abrüstung» setzen. Deshalb benötige man die Raketenstation nicht mehr. Was letztendlich wirklich zu ihrer Schliessung führte, entzieht sich meiner Kenntnis. Es gab auch Befürworter des Riesenprojektes, die nach der Schliessung behaupteten: Nur weil die Station gebaut worden sei, hätten die Sowjets bei den Abrüstungsverträgen eingelenkt. Ob das stimmt, lässt sich heute natürlich nicht mehr klären.

Wie viele Orte des Scheiterns haben Sie bisher fotografiert?

Gegen 30 Projekte, funktioniert haben aber nur rund 20. Es passiert immer wieder, dass ich daheim feststellen muss, dass die gemachten Bilder respektive das Objekt nicht meinen Vorstellungen entsprechen. Manchmal reise ich dann nochmals hin, manchmal aber auch nicht.

Auf Ihren Bildern ist das Wetter meistens dunstig oder der Himmel ist bewölkt.

Das haben Sie richtig beobachtet. Blauer Himmel und hochstehende Mittagssonne funktionieren für meine Art von Fotografie nur schlecht. Ich fotografiere deshalb meistens am Morgen oder kurz vor Sonnenuntergang.

Sihlhochstrasse in Zürich: Ob Fotograf Adrian Rheinländer dieses Projekt auch interessieren wird?
Sihlhochstrasse in Zürich: Ob Fotograf Adrian Rheinländer dieses Projekt auch interessieren wird?
Bild: Keystone

Ich rufe Sie aus der Schweiz an: Haben Sie in unserem Land auch schon Orte des Scheiterns fotografiert?

Bisher noch nicht. Haben Sie vielleicht einen Tipp?

Da muss ich kurz überlegen. – Okay, ich hätte vielleicht ein Projekt für Sie: der Autobahnstummel auf der Sihlhochstrasse in Zürich.

Diese Strasse werde ich mir gerne anschauen.

Wissen Sie schon, welchen Ort des Scheiterns Sie als nächsten fotografieren werden?

Nein. Aber das Projekt wird mich sicher noch ein, zwei Jahre beschäftigen. Danach möchte ich es gerne mit einer Publikation abschliessen.

Noch mehr Bilder aus dem Projekt «Die Ästhetik des Scheiterns» von Adrian Rheinländer gibt es unter diesem Link zu sehen.

Den «Bötschi fragt» - Newsletter abonnieren

Das sind die verrücktesten Pflanzen der Welt

Zurück zur Startseite