KolumneWarum ist es so schwer, einfach nichts zu tun?
Michelle de Oliveira
1.12.2024
Das Leben rast manchmal nur so vorbei. Doch dann bremst eine Zwangspause die Kolumnistin und ihren Sohn. Ihm gelingt es problemlos, nichts zu tun. Sie hingegen steht vor einer grossen Herausforderung.
Michelle de Oliveira
01.12.2024, 14:35
Bruno Bötschi
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Ein aufs Maximum beschleunigter Alltag und auch die Wochenenden voller Termine: Das Leben von blue News Kolumnistin Michelle de Oliveira und ihrer Familie ist durchgetaktet.
Bis die Familie kürzlich eine Zwangspause verordnet bekam, weil eines der Kinder die Gaumenmandeln entfernen lassen musste.
Das Nichtstun fühlt sich ungewohnt an: Im stressigen Alltag hatte die Kolumnistin verlernt, Pause zu machen und mal wirklich nichts zu tun.
«Darum will ich das jetzt, wo unser Alltag wieder schneller getaktet ist, üben. Ich versuche, mindestens einmal am Tag für fünf Minuten nichts zu tun», schreibt Michelle de Oliveira in ihrer Kolumne.
Auch wenn wir uns als Familie bemühen, unser Leben nicht zu stressig zu gestalten, sind die Tage trotzdem ziemlich durchgetaktet: aufstehen, frühstücken, anziehen und dann die Kinder zur Schule bringen.
Was möglicherweise simpel klingt, ist mit zwei kleinen Kindern an manchen Tagen tatsächlich leicht – an anderen aber bereits ein Kraftakt für alle Beteiligten.
Nach der Schule wird Hobbys nachgegangen, werden Arztbesuche wahrgenommen, Hausaufgaben erledigt und gespielt. Und dann ist schon wieder Zeit für das Znacht und das Bett.
Unsere Familie bekam eine Zwangspause verordnet
An den Wochenenden und in den Ferien wollen wir dann aber nicht nur zu Hause sein und verbringen den Tag im Wald, am Meer oder in der Stadt, treffen Freundinnen und Freunde, verbringen Zeit mit den Grosseltern, kaufen endlich neue Schuhe. Es ist immer etwas los. Und so vergehen die Tage und Wochen und Monate in einem Affen-Tempo.
Zur Person: Michelle de Oliveira
Bild: Privat
Michelle de Oliveira ist Journalistin, Yogini, Mutter und immer auf der Suche nach Balance – nicht nur auf der Yogamatte. Ausserdem hat sie ein Faible für alles Spirituelle. In ihrer Kolumne berichtet sie über ihre Erfahrungen mit dem Unfassbaren, aber auch aus ihrem ganz realen Leben mit all seinen Freuden und Herausforderungen. Sie lebt mit ihrer Familie in Portugal.
Bis wir vor einiger Zeit eine Zwangspause verordnet bekamen. Mein Sohn musste seine Gaumenmandeln entfernen lassen und war danach zwei Wochen zu Hause.
Und plötzlich drehte meine Welt langsamer. Denn mein Sohn war auf einen Schlag sehr, sehr langsam.
Zu Beginn tat ihm alles weh, also dauerte schon der Gang vom Wohnzimmer zur Toilette länger als gewohnt.
Das Sprechen bereitete ihm Mühe und ich musste meist mehrmals nachfragen, bis ich ihn verstand. Wir redeten also nicht mehr, aber länger.
Und das Essen erst: Wenn wir die Kinder zur gewohnten Zeit ins Bett bringen wollten, mussten wir eine halbe Stunde früher essen, weil es sonst viel zu spät wurde.
Meist sassen wir gut eineinhalb Stunden am Tisch, bis er ganz sorgfältig und langsam geschlürft oder gekaut hatte. Unsere Tochter, die es liebt, in Etappen zu essen, verliess den Tisch unterdessen, kehrte dann aber nach einer Weile für eine zweite Portion zurück und genoss diese neue Möglichkeit sehr.
«Jesses, das arme Kind!»
Während ich arbeitete, las mein Sohn oder blätterte in einem Buch, lauschte Hörspielen oder verwandelte sein Zimmer in eine Lego-Stadt (sehr langsam, selbstredend). Es war ausgesprochen friedlich, wenn wir beide zu Hause waren.
Bis ich an einem dieser Tage vom Büro ins Wohnzimmer kam und meinen Sohn vorfand, wie er einfach nur dasass. Auf einem Sessel nahe dem Fenster, aber er blickte in die andere Richtung, an die Wand. Er sass einfach da und tat nichts. Er bohrte nicht einmal in der Nase.
Meine Ruhe war sofort vorüber und mein Impuls war: Jesses, das arme Kind! zu denken und ihm irgendetwas vorzuschlagen, das er stattdessen tun könnte. Doch es gelang mir, mich zurückzuhalten und wieder ins Büro zurückzuziehen, er hatte mich nicht bemerkt.
Ich selbst bin meist zackig unterwegs, manchmal schon fast fahrig und oft ungeschickt, was mich am Ende oft mehr Zeit kostet, als wenn ich von Beginn weg sorgfältig wäre.
Mein Gehirn läuft immer auf Hochtouren
Manchmal geht mir alles zu langsam und ich wünschte, ich könnte gewisse Dinge in doppelter Geschwindigkeit abspulen. Mein Gehirn läuft sowieso immer auf Hochtouren und meist führe ich innerlich einen angeregten Dialog. Yoga, Meditation und lange Spaziergänge helfen mir, wenigstens ein bisschen herunterzukommen.
Aber einfach nur dasitzen und nichts, wirklich gar nichts zu tun – auch nicht versuchen, ein Nickerchen zu machen – das halte ich fast nicht aus. Und es hat mich erschreckt zu merken, wie schwer es mir fiel, dies bei meinem Sohn auszuhalten.
Sofort dachte ich, er sollte doch etwas machen, vielleicht basteln oder spielen oder lernen. Ich fühlte mich zudem als schlechte Mutter, wenn ich mein Kind einfach so dasitzen liess. Dabei war er offenkundig ganz zufrieden und hing womöglich seinen Tagträumen nach.
Eine Eigenschaft, um die ich ihn beneide. Eine Qualität, die vielen Menschen fehlt, glaube ich. Mir auf jeden Fall.
Und darum will ich das jetzt, wo unser Alltag wieder schneller getaktet ist, üben. Ich versuche, mindestens einmal am Tag für fünf Minuten nichts zu tun.
Oft brauche ich dafür noch eine Tasse Kaffee. Aber ohne Handy, ohne Einkaufslisten schreiben, ohne einige Seiten in einem Buch zu lesen. Einfach sein und der Ruhe lauschen. Wer hätte gedacht, dass etwas so Simples so herausfordernd sein kann.
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