Kolumne Warum ich aufhören will, meinen und andere Körper ständig zu beurteilen

Michelle de Oliveira

13.10.2024

Demi Moore will im Film «The Substance», der aktuell in den Schweizer Kinos läuft, ihren älter werdenden Körper nicht mehr sehen – und entscheidet sich dafür, eine Substanz zu sich zu nehmen, die sie jünger macht.
Demi Moore will im Film «The Substance», der aktuell in den Schweizer Kinos läuft, ihren älter werdenden Körper nicht mehr sehen – und entscheidet sich dafür, eine Substanz zu sich zu nehmen, die sie jünger macht.
Bild: The Match Factory

Immer wieder kommt die Kolumnistin mit «Bodyshaming» – dem bewertenden Kommentieren von Körpern – in Kontakt. Und sie tut es selbst auch, bei sich und bei anderen Menschen. Das will sie jetzt ändern.

Michelle de Oliveira

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Wie soll man sich in einer Welt, in der selbst perfekte Körper nicht gut genug scheinen, selbst akzeptieren?
  • Unschöne Kommentare einer langjährigen Bekannten am Strand, veranlassten blue News Kolumnistin Michelle de Oliveira dazu, wieder einmal über Bodyshaming nachzudenken.
  • Wieso man den Körper von anderen unkommentiert lassen sollte – und was man dagegen tun kann, wenn man selbst Opfer von Bodyshaming wird, erfährst du hier.

Neulich waren wir am Strand, wir sind im Meer geschwommen und haben im Sand das Rad, den Handstand und Saltos geübt. Das macht hungrig, also haben wir Zvieri gegessen.

Und während mein Sohn zufrieden vor sich hin gemampft hat, sagte eine Bekannte zu ihm: «Iss bloss nicht zu viel, sonst wirst du noch dick.» Ich erschrak und war gleichzeitig nicht überrascht.

Denn diese Bekannte, in ihren späten 70ern, ist bekannt für solche Kommentare. In meinem Kopf nenne ich sie die «Queen of Bodyshaming». Also die Königin des ungefragten und nicht unbedingt netten Kommentierens anderer Körper.

Bodyshaming beginnt bei gutgemeinten Kommentaren

An einem Fest ist einmal ein Bein eines sehr alten Stuhls gebrochen, als sich meine Freundin darauf gesetzt hatte. Der Kommentar kam prompt: «Früher warst du so dünn, und jetzt bricht schon der Stuhl unter dir zusammen.»

Natürlich ist sie ein Extrem-Beispiel. Aber ihre jüngsten Kommentare haben mich dazu veranlasst, wieder einmal über Bodyshaming nachzudenken.

Zur Person: Michelle de Oliveira
Bild: Privat

Michelle de Oliveira ist Journalistin, Yogini, Mutter und immer auf der Suche nach Balance – nicht nur auf der Yogamatte. Ausserdem hat sie ein Faible für alles Spirituelle. In ihrer Kolumne berichtet sie über ihre Erfahrungen mit dem Unfassbaren, aber auch aus ihrem ganz realen Leben mit all seinen Freuden und Herausforderungen. Sie lebt mit ihrer Familie in Portugal.

Denn es ist allgegenwärtig und manchmal kaum erkennbar, auch darum, weil es oft so subtil ist. Etwa dann, wenn es nett gemeint ist.

Beispiel: «Wow, du hast ja mega viel abgenommen, du siehst super aus.» Ein Kompliment auf den ersten Blick.

Aber es schwingt eben auch die Aussage mit: «Davor, mit mehr Gewicht, hast du nicht so toll ausgesehen.»

Oder jemanden, der objektiv vielleicht dem gängigen Schönheitsideal entspricht, zu sagen: «Also du, du kannst wirklich nicht klagen.» Was wissen wir schon, wie es im Inneren der Person aussieht? Mit welchen Problemen und Zweifeln sie zu kämpfen hat?

Menschen be- und verurteilen sich selbst viel zu oft

Aber Bodyshaming passiert nicht nur bei andern. Es sitzt tief und viele Menschen be- und vor allem verurteilen sich selbst viel zu oft. Ich gehöre auch dazu.

Wie oft schaue ich mich prüfend im Spiegel an und denke nicht etwa: So cool, dass ich einen gesunden, starken und belastungsfähigen Körper habe. Sondern: Uii, das wabbelt aber schon ziemlich fest, ich müsste mehr Sport machen. Vielleicht ein, zwei Kilo verlieren. Und die Falten, herrje, die Falten!

Wir wurden konditioniert, uns selbst und andere ständig zu bewerten. Es passiert in Bruchteilen von Sekunden und oft unbewusst.

Die Idee, dass nur ein schlanker, straffer und faltenfreier Körper ein guter Körper ist, hat sich in uns festgekrallt und wird durch Werbung, unrealistische Bilder auf sozialen Medien und Angebote für gewichtsreduzierende Mittel genährt und am Leben erhalten.

Instagram zeigt uns, wie wir angeblich auszusehen haben

Jedes Plakat, jeder Werbespot, jedes Instagram-Profil zeigt uns, wie wir angeblich auszusehen haben. Plötzlich ist der Bauch nicht nur ein Bauch, sondern eine «Problemzone», die Beine nicht nur Beine, sondern «zu dick» oder «zu dünn», das Gesicht kein Ausdruck von Gefühlen, sondern davon, wie «gut» oder «schlecht» man altert.

Und nein, man muss sich nicht unbedingt und jeden Tag und jeden Augenblick schön finden. Denn auch die «Bodypositivity» kann wiederum Druck ausüben und legt den Fokus noch immer auf das Aussehen.

Viel mehr könnte das Ziel sein, eine neutrale, oder zumindest neutralere, Beziehung zu unseren Körpern zu schaffen. Also aufhören, dem physischen, äusseren Erscheinungsbild so unfassbar viel Aufmerksamkeit zu geben – positive wie negative. Also mehr «Bodyneutrality» statt «Bodyshaming».

Die Bekannte wird weiterhin unangebrachte Kommentare machen. Sie vom Gegenteil zu überzeugen, ist hoffnungslos und ein Kampf, den ich mir erspare.

Stattdessen habe ich mir vorgenommen, meinem Körper gegenüber neutraler zu sein und die kommentierende Stimme häufiger zu ignorieren, bis sie vielleicht irgendwann ganz leise ist oder im besten Falle ganz verstummt. Und ich möchte meinen Kindern ein Vorbild sein, indem ich meinen Körper und der anderer Menschen unkommentiert lasse.


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