Kolumne am Mittag Rock'n'Roll pfeift aus dem letzten Loch

Von Gil Bieler

10.6.2021

Mötley-Crüe-Sänger Vince Neil bei einem Soloauftritt im Mai 2019 in Mexico City. 
Mötley-Crüe-Sänger Vince Neil bei einem Soloauftritt im Mai 2019 in Mexico City. 
Getty Images

Fans von Rockmusik werden gern als ewiggestrige Nostalgiker verspottet – leider völlig zu Recht. Ein aktuelles Ranking zweier Musikmagazine liest sich, als wäre die Welt im Zeitalter der Mondlandung stehen geblieben. 

Von Gil Bieler

Eigentlich müsste dieser Artikel auf Papier erscheinen. Denn ob jemand der Angesprochenen überhaupt den Sprung ins digitale Zeitalter geschafft hat, ist durchaus fraglich. Welches ist das grösste Gitarrenriff aller Zeiten, wurden Rock-Fans von zwei Musikmagazinen vor Kurzem gefragt. Sie wählten «Whole Lotta Love» von Led Zeppelin auf Platz 1.

Tolle Wahl, dachte ich zunächst. Zweifellos hat Zeppelin-Gitarrist Jimmy Page mit diesem Song 1969 ein Riff kreiert, das man nicht mehr aus dem Kopf bekommt und das alle Welt kennt. Doch das gute Gefühl verflüchtigte sich, als ich die Würdigung las: «Während alle anderen immer noch Sechziger spielten, spielten Led Zeppelin jetzt die Siebziger.»

Wenn anno 2021 der Pioniergeist von vor fünfzig Jahren gelobt wird, dann liegt doch etwas im Argen.

Geiles Riff, aber eben auch von 1968: «Whole Lotta Love» von Led Zeppelin.

Youtube

Rock-Fans werden nicht von ungefähr als Ewiggestrige verspottet, die sich an die letzten Strähnen ihres schütteren Haares genauso festklammern wie an der Lieblingsjeans aus den Achtzigerjahren. Denen schon ein Keyboard zu neumodisch ist, geschweige denn Musik aus einem Laptop.

Auch ich muss gestehen, dass ich auf dem Streaming-Dienst meines Vertrauens viel, viel, viel häufiger die alten Grosstaten von Black Sabbath, den Beatles oder Slayer totnudle, als die neuesten Trends auszuchecken. Es ist und bleibt einfach grossartige Musik. Aber eben: Alles schon richtig alt. 

Die Newcomer von ... 1992?!

Auch wenn natürlich nicht die freshesten Newcomer gesucht waren, ist auffällig, wie sehr das Riff-Ranking der Musikmagazine «Total Guitar» und «Guitar World» staubt. Nebst «Whole Lotta Love» finden sich darin weitere Uralt-Nummern wie «Smoke On The Water» von Deep Purple, «Back In Black» von AC/DC und «Iron Man» von Black Sabbath. Das aktuellste Stück in den Top Ten ist noch Panteras «Walk» von 1992 – hat also auch schon bald 30 Jahre auf dem Buckel. Eine Loredana war bei Erscheinen noch nicht einmal geboren.



Ist in den letzten Jahrzehnten echt nichts Grossartiges mehr passiert im Rock'n'Roll-Zirkus? Sind wir Headbanger wirklich so in der Vergangenheit hängen geblieben, wie es immer heisst? 

Da musste ich unweigerlich an Vince Neil denken. Der Sänger von Mötley Crüe hat kürzlich sein erstes Konzert seit Beginn der Corona-Pandemie gespielt. Es war gleichzeitig auch ein Formcheck für die anstehende 2022er-Tour mit seiner Hauptband – und der 60-Jährige fiel rasselnd durch.

Dass Neil körperlich längst ausser Form ist? Geschenkt, interessiert auch nicht so. Doch diesmal sang er auch noch derart mies, dass die Fans ihn ausbuhten. «Es tut mir so leid, Leute», entschuldigte sich der Rocker am Ende beim Publikum. «Meine fucking Stimme ist hinüber.»

Ein Weckruf: Liebe Headbanger, wir brauchen dringend neue Helden.

Frage an die Rock-Fans
Wann entstand die beste Musik?

Regelmässig gibt es werktags um 11:30 Uhr und manchmal auch erst um 12 Uhr bei «blue News» die Kolumne am Mittag – es dreht sich um bekannte Persönlichkeiten, mitunter auch um unbekannte – und manchmal wird sich auch ein Sternchen finden.