Tischgemeinschaften «Tavolata gibt vielen Menschen eine Struktur im Alltag»

Von Sulamith Ehrensperger

1.10.2020

Seit 2010 bringt «Tavolata» Menschen in selbstorganisierten Tischgemeinschaften des Migros-Kulturprozent zusammen.
Seit 2010 bringt «Tavolata» Menschen in selbstorganisierten Tischgemeinschaften des Migros-Kulturprozent zusammen.
Bild: Migros-Kulturprozent

Gemeinsam statt einsam: Tavolata ist mehr als zusammen Essen. Wie Tischgemeinschaften auch in Coronazeiten funktionieren und warum sich immer mehr Männer anschliessen, das Gespräch mit einer Expertin.

Frau Rutz, was genau ist eine Tavolata?

Eine Tavolata entsteht, wenn sich Menschen zum gemeinsamen Kochen, Essen und Geniessen treffen. Der italienische Begriff bedeutet übersetzt Tafelrunde.

Bei Tafelrunde kommt mir die Versammlung edler Ritter an König Arthurs Hof in den Sinn – wie funktionieren Tischgemeinschaften in der heutigen Zeit?

Die Tavolata organisieren sich selbst, alle Mitglieder unseres Netzwerks tragen auf ihre Art zum Gelingen der Tischrunden bei. Die Gruppen und Treffen entwickeln so eine ganz eigene Dynamik. Manche organisieren nebst dem gemeinsamen Essen auch Spielnachmittage, den Besuch kultureller Veranstaltungen oder fahren zusammen in die Ferien.

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zVg

Dem Tavolata-Netzwerk gehören über 500 selbstorganisierte Tischgemeinschaften in der ganzen Schweiz an. Das Projekt hat das Migros-Kulturprozent 2010 initiiert und unterstützt das Netzwerk seither durch ein Projektteam, wie auch mit Informationsveranstaltungen, Einführungskursen und Schnupper-Tischrunden. 

Die Tavolata hat ihre Bedeutung als soziale Institution also nicht verloren.

Sie ist tatsächlich mehr als ein gemeinsames Essen. Durch die Tischrunden können neue Kontakte geknüpft werden, man kann sich mit Gleichgesinnten und Gleichaltrigen oder über Generationen hinaus austauschen. Für viele Pensionierte sind diese Treffen eine wichtige Struktur in der Woche. Eine Gastgeberin unseres Netzwerks beispielsweise hat nach dem frühen Tod ihres Mannes eine Tavolata aufgebaut, um neue Freundschaften zu knüpfen.

Ein Drittel der Schweizerinnen und Schweizer lebt in einem Single-Haushalt – von den über 80-Jährigen sogar rund die Hälfte. Sind Tavolata eigentlich nur für ältere Menschen gedacht?

Ursprünglich liegt der Fokus auf älteren Altersgruppen, doch sprechen wir auch jüngere an. Gerade für alleinerziehende Mütter und Väter kann eine Tischgemeinschaft wertvoll sein. Oft ist es nicht einfach, ohne grösseren Bekannten- und Verwandtenkreis jemanden zu finden, mit dem man sich zum Essen treffen und sich über das Erlebte austauschen kann.

Bio, vegetarisch, oder vegan: Gibt es auch Tischgemeinschaften, die sich einer bestimmten Ernährung verschrieben haben?

Die meisten Tavolata finden in lokalem Rahmen statt, weniger aufgrund eines Ernährungskonzepts. Es gibt aber vereinzelte, die ausschliesslich vegetarisch kochen. Andere sind intergenerationell ausgerichtet, da essen verschiedene Altersgruppen zusammen, oder interkulturell, beispielsweise eine Berner Tavolata, wo sich Seniorinnen mit aus Afghanistan geflüchteten jungen Männern treffen.

Das Netzwerk von Migros Kulturprozent gibt es nun seit zehn Jahren. Wie offen sind die Schweizerinnen und Schweizer gegenüber Tavolata?

Zur Person
Marlen Rutz
Migros-Kulturprozent

Marlen Rutz ist Projektleiterin Soziales bei der Direktion Kultur und Soziales des Migros-Genossenschafts-Bunds. Sie verfügt über eine langjährige Berufserfahrung in der internationalen Zusammenarbeit. Die studierte Religions- und Umweltwissenschaftlerin lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in der Ostschweiz.

Grundsätzlich sind die Leute sehr offen, inzwischen haben sich über die ganze Schweiz verteilt 500 Tavolata unserem Netzwerk angeschlossen. Es gibt Gastgeberfamilien, die die Treffen in ihrem Esszimmer anbieten, andere finden in einem öffentlichen Raum statt. Klar, manchmal braucht es zu Beginn ein bisschen mehr Überzeugungskraft. Ein Mann wollte eine Tavolata ins Leben rufen, weil er beobachtete, dass viele Männer in seinem Umfeld einsam sind. Es kostete ihn einiges an Überzeugungsarbeit, er erklärte viel und ging persönlich vorbei, um von seiner Idee zu erzählen. Aber es hat geklappt.

Beobachten Sie, dass die Männer zurückhaltender sind?

Die Männer machen immer häufiger mit, was vielleicht auch mit einem veränderten Männerbild zu tun hat. Etwa zehn Prozent der Gastgeber sind Männer, Tendenz ist aber steigend.

Wie funktionieren die Tischgemeinschaften zu Coronazeiten?

Für viele waren sie ein Segen. Während des Lockdowns konnten sie sich zwar physisch nicht mehr treffen, dennoch fand ein reger Austausch statt. Man rief sich gegenseitig an, manche schrieben sich Briefe. Es gab einzelne Tavolata, die sich später dann draussen zum Picknick getroffen haben oder zusammen spazieren gingen. Es ist weniger zusammen gegessen worden, aber die Beziehungen wurden im Rahmen des Möglichen gepflegt und sind in Zeiten von Corona eine grosse Stütze.

Was hat sich seither verändert?

Natürlich gab es auch Diskussionen, wie man Tischgemeinschaften Corona-konform weiterführt. Deshalb haben wir nach dem Lockdown Empfehlungen herausgegeben. Die meisten haben einen guten Weg gefunden oder sind noch daran sich zu arrangieren, dass es für alle stimmt. Mindestens zwei Tavolata haben sich aber aufgelöst, weil sie keine gemeinsame Lösung fanden.

Für alle, die Geschmack gefunden haben: Wie findet man die passende Tavolata?

Eine Tavolata in Ihrer Region finden Sie über eine Suchfunktion nach Postleitzahlen auf unserer Website oder direkt über eine der regional verantwortlichen Personen. Diese kennen sämtliche Tischgemeinschaften in Ihrer Region persönlich und können mit individuellen Tipps weiterhelfen. Für Menschen, die sich konkrete Tipps zur Gründung einer Tavolata holen möchten, empfehlen wir einen Einführungskurs zu besuchen. 

Hier finden Sie weitere Tipps zur Gründung einer Tavolata. 



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