Viele Menschen können sich nicht entscheiden, wo sie lieber leben möchten: auf dem ruhigen und weitläufigen Land oder doch lieber in der pulsierenden und aufregenden Stadt. Beide Lebensräume haben ihre Vorzüge.
Es ist die Wunschvorstellung vieler: Nur ein paar Meter vor dem Haus hält das Tram, die zum nächsten Supermarkt, ins Theater und in die hippe Bar fährt. Hinterm Haus beginnt – direkt neben dem Garten mit freilaufenden Hühnern – der grosse, geheimnisvolle Wald.
Die perfekte Mischung aus Stadt- und Landleben bleibt für die meisten Menschen jedoch nur ein Traum. Sie müssen sich entscheiden. Edyta Stateczny-Kade hat das getan.
Vor einem Jahr packt sie in Bielefeld ihre Koffer, gibt ihr Yogastudio auf und zieht nach Gyhum, eine Gemeinde in Niedersachsen mit etwa 2400 Einwohnern. Lange hat sie sich gesträubt, die Stadt zu verlassen, setzte sogar ihre Ehe dafür aufs Spiel.
Fernbeziehung ging nicht gut
Vor vier Jahren schon zieht ihr Mann für ein gutes Jobangebot nach Gyhum. «Ich dachte, wir könnten eine Fernbeziehung führen, aber das ging nicht gut», sagt Stateczny-Kade. Und so ziehen die 40-Jährige und der achtjährige Sohn dem Vater hinterher aufs Land. Zurück lässt sie eine gute Infrastruktur, ein breites kulturelles Angebot und die Möglichkeit, sich rund um die Uhr mit Freundinnen in Bars zu treffen.
Doch sie gewinnt auch hinzu: «Hier gibt es weniger Ablenkung. Manchmal schaue ich einfach so aus dem Fenster und komme zur Ruhe.» Im eigenen Garten baut sie Kräuter an, und im Frühjahr soll Gemüse hinzukommen. Auch ihr Sohn Aaron lässt sich auf das neue Leben ein. Anders als zuvor in der Stadt fährt er nun alleine mit dem Schulbus zur Schule und kann spontan nach draußen gehen und mit den Nachbarskindern spielen.
Die Mutter findet, ihr Sohn sei viel reifer geworden. Am Anfang führten die fehlenden Impulse bei Aaron noch zu Langeweile, bis er begann, kreativ zu werden: «Hier geht er raus, und alles, was er findet, sind zum Beispiel herumliegende Äste. Dann muss er sich überlegen, was er damit macht. So entstehen neue Dinge.»
Stateczny-Kade geniesst das Landleben, kennt aber auch die Herausforderungen. Spätestens wenn der Sohn jugendlich ist, sagt sie, will er ins Kino, in Bars und in Clubs. All das gibt es erst im 50 Kilometer entfernten Bremen. Ausserdem wundert sie sich manchmal über die Einstellung der Dorfbewohner: «Die Leute fahren teilweise lieber zum Discounter, um sich Eier zu kaufen, obwohl die hier direkt an der Strasse vom Bauern verkauft werden.»
Einsamkeit ist eine Art sozialer Stress
Land- und Stadtleben – beide haben mit Vorurteilen zu kämpfen. Die Stadt etwa, so heisst es, ist auf Dauer stressig und ungesund. Doch so pauschal lässt sich das laut Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner Klinik in Berlin, nicht sagen. Neben seiner Tätigkeit als Chefarzt forscht der Psychiater auch an der Charité zum Thema Stress. «Es ist vor allem der anhaltende soziale Stress, der den Menschen krank macht», sagt Adli. Das heisst, die volle U-Bahn und die blinkende Werbetafel an der Hauswand sind nicht das Problem.
Gefährlicher sei es, wenn Menschen zum Beispiel auf engen Raum leben, wo sie ständig dem Lärm des Nachbarn ausgeliefert sind, ohne sich diesem entziehen zu können. Auch Einsamkeit ist eine Art sozialer Stress, erklärt der Psychiater. Es sind also die soziale Dichte und die soziale Isolation, die krank machen. Zwei Faktoren, die es laut Adli zwar häufiger in der Stadt gibt, doch auch das Landleben kann hart sein.
«Menschen auf dem Land unterstützen sich innerhalb ihrer Dorfgemeinschaft zwar stärker», sagt Adli. «Doch in diese Dorfgemeinschaft müssen Neulinge auch erst einmal aufgenommen werden. Das ist nicht immer so leicht.» Stress auf dem Land kann auch entstehen, wenn Menschen täglich zur Arbeit pendeln. Von der Idee, im Grünen zu leben und in der Stadt zu arbeiten, rät er also ab.
Keine einfach Entscheidung
Die Entscheidung, ob nun Stadt oder Land, fällt nicht immer leicht. Doch das ist laut Karin Krümmel, Psychologin und Life-Coach aus Berlin, als erste Erkenntnis gar nicht schlimm. Bevor nun möglicherweise die Veränderung sichtbar nach aussen angegangen wird, hilft es, zunächst in sich zu gehen und zu schauen, welche Bedürfnisse da sind: vielleicht ein grosser Garten, Wald, Tiere, Ruhe, Theater, Restaurants, Konzerte?
«Im nächsten Schritt kann ich schauen, was ich davon schon jetzt in meinem Leben habe und was von dem Fehlenden ich in mein jetziges Leben auch ohne Umzug integrieren könnte», sagt Krümmel. Das bedeutet, nur weil jemand eine Sehnsucht nach Theaterbesuchen hat, muss er nicht gleich das Dorf verlassen, vielleicht reicht alle zwei Monate ein Ausflug in die Stadt.
Menschen, die sich nicht entscheiden können, empfiehlt sie die Visualisierung. Wer sich also unsicher ist, ob er aufs Land ziehen möchte, der könne sich erst einmal ein ganzes Wochenende dort ausmalen und so herausfinden, wie sich das anfühlt, an einem Samstagabend abseits der großen Partys zu sein.
Laut Krümmel gibt es nicht die eine perfekte Lösung, alles habe Vor- und Nachteile. «Am Ende wird sich häufig von ganz allein herauskristallisieren, was das Passende ist und ob eine Veränderung angebracht ist oder es eher darum geht, mit dem was ist, zufrieden zu sein.»
Edyta Stateczny-Kade hat längst herausgefunden, was das Richtige für sie ist. Sie will definitiv auf dem Land bleiben.
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