Kolumne am Mittag«Pralle Pralinen zum Anbeissen» – Adieu, Ära des Page Three Girls
Von Philipp Dahm
17.11.2020
Vor 50 Jahren hob «The Sun» das Page Three Girl in die Zeitung. Der Brauch wirkt heute so was von überholt, obwohl es vor vier Jahren die Nackedeis bei uns auch noch zu sehen gab.
Jubiläum: Am 17. November 1970 präsentiert das britische Boulevardblatt «The Sun» erstmals das «Page Three Girl». Heute vor 50 Jahren hat die Zeitung etabliert, ihre männliche Leserschaft zwischen den Zeilen mit nackten Tatsachen zu konfrontieren. Eine Tradition, die nach diversen Protesten von Frauen und den Nachwehen der #MeToo-Debatte heute merkwürdig gestrig erscheint.
Das Konzept doppeldeutiger Titel über Doppel-D-Fotomodels ist kein «neckischer Ausrutscher», sondern Programm, nachdem Rupert Murdoch «The Sun» übernommen hat. Der australische Medienmogul hatte 1968 das Revolverblatt «News oft he World» gekauft, das sonntäglich erscheint.
Um seine Druckerei den Rest der Woche über auszulasten, verleibt sich Murdoch 1969 auch die fünf Jahre zuvor gegründete «Sun» ein: Das als langweilig gegeisselte Blatt macht damals zwei Millionen Pfund minus im Jahr, was heute 42 Millionen Franken entspricht.
Der neue Besitzer macht Albert «Larry» Lamb zum neuen Chefredaktor, und gibt ihm mit auf den Weg: «Ich will ein Krawallblatt mit vielen Titten drin.» Lamb bleibt mit einer Unterbrechung bis 1981 an der Redaktionsspitze und trägt 1979 mit dazu bei, die Konservative Margaret Thatcher zur Premierministerin zu machen. Was die «Eiserne Lady» von den Busenwundern im Boulevardblatt hielt, ist leider nicht überliefert.
100 Pfund Gage
Streng genommen zeigt sich «The Sun» schon ziemlich freizügig, als deren Stern gerade erst aufgeht: Schon in der Erstausgabe unter Murdoch 1969 ist nackte Haut zu sehen: Ulla Lindstrom ist dort ausgiebig zu betrachten, nachdem das schwedische Model als November-Model im «Penthouse» zu bewundern war. Das klassische «Page Three Girl» kommt aber erst am 17. November 1970 ins Blatt.
Diese Premiere wird fälschlicherweise einem deutschen Model namens Stephania Rahn untergeschoben, doch tatsächlich gebührt die heute zweifelhafte Ehre Stefanie Khan, die heute Stephanie Marrian heisst. Als ein Fotograf sie für den Job anspricht, ist das Model 22 Jahre alt. «Er zahlte mir 100 Pfund dafür. Das war damals echt viel Geld», erinnert sich Marrian auf Nachfrage der «Bild». Von dem Geld sei sie in die Ferien geflogen – und nach ihrer Rückkehr und dem Abdruck des Fotos plötzlich berühmt gewesen.
Auf die heute 72-Jährige, die sich mit ihren Seite-drei-Kolleginnen Gillian Duxbury und Mona Solomons erfolglos als Band Page Three probiert, folgen viele weitere feminine Blüttler, die so schnell wieder in der Versenkung verschwinden, wie sie ihre BHs geöffnet haben. Rupert Murdoch erregt das aber nicht: Sein Kurs aus Sensationalismus gepaart mit Sex hebt «The Sun» in neue Höhen.
Samantha Fox' Ohhh-Level
Bald kopieren andere Blätter wie «Daily Star», «Daily Mail» und «Daily Mirror» das Seite-drei-Konzept und lassen ebenfalls die Hüllen fallen. «The Sun» erhöht 1975 die Schlagzahl: Die bisher unregelmässig entblätterten Page Three Girls erscheinen fortan täglich – und rufen langsam Kritiker*innen auf den Plan.
Etwa als 1983 die erst 16-jährige Samantha Fox zu sehen ist, die ihre «A-Levels» in der Schule gegen «Ohh-Levels» geiler Glotzer eintauscht, wie es «The Sun» schreibt. Dennoch: Auch der deutschsprachige Boulevard lässt sich vom schnöden Verkaufskonzept verführen – und nimmt die Leichtbekleideten gleich auf die Titelseite. «Bild» führt das «nackte Seite-1-Girl» 1984 in Deutschland ein, «Blick» zieht vor unseren Augen nach und blank.
Don’t forget, Sam Fox was only 16 when she got them out for Page 3: “Sam, 16, quits A-Levels for Ooh-Levels”. They only stopped printing topless under 18s when it became illegal with Sexual Offences Act 2003. pic.twitter.com/FKjGGVJuOg
Was einst die Wallungen männlicher Leser und die Auflage nach oben schnellen lässt, kommt jedoch langsam in die Jahre. Und Frauen machen auf die Kehrseite aufmerksam: In Grossbritannien beginnt Lucy-Ann Holmes mit einem Kreuzzug und sammelt ab 2012 Unterschriften gegen die Unsitte, nackte Frauen in Tageszeitungen zu zeigen.
Stell es dir mal umgekehrt vor
Sie sagt dem «Guardian», man solle sich das mal andersrum vorstellen: «Stell dir vor, auf Seite 3 hätten wir seit 42 Jahren nur Hoden gesehen. Junge, grosse, haarlose Hoden. Und nun steht ein Mann auf und sagt: ‹Ich habe Söhne, und sie laufen die Strasse lang und die Leute grabschen ihre Eier an. Sie sagen: ‹Zeig uns deine Eier›, und [meine Söhne] hassen das. Sie bekommen ein Problem mit ihrem Selbstbewusstsein. Können wir nicht aufhören, Hoden-Bilder zu zeigen?› Und dann dreht sich eine Frau um und sagt [zu diesem Mann]: ‹Du bist doch bloss neidisch!›»
Der Wind hat sich seit 1970 gedreht, der Zeitgeist ändert sich. Die «Bild» schafft 2012 die Nackedeis auf der Titelseite ab – natürlich nicht, ohne sich selbst dafür zu feiern: «Es ist vielleicht ein kleiner Schritt aus Sicht der Frauen. Aber es ist ein grosser Schritt für Bild und alle Männer in Deutschland.» «Bild endlich anzüglich» titelt die «Zeit» und fragt zynisch-zotig: «Keine prallen Pralinen zum Anbeissen mehr?»
«The Sun» gibt 2014 nach. Der «Blick» überlässt es den Leserinnen ab 2009 selbst, wie viel sie als «Star des Tages» zeigen wollen. Ab Neujahr 2017 ist es dann auch in der Schweiz vorbei mit blutt.
Und das ist gut so. Denn Zeiten ändern sich. Und wir uns mit ihnen.
Regelmässig gibt es werktags um 11:30 Uhr und manchmal auch erst um 12 Uhr bei «blue News» die Kolumne am Mittag – es dreht sich um bekannte Persönlichkeiten, mitunter auch um unbekannte – und manchmal wird sich auch ein Sternchen finden.