Ein Gespräch über Weiblichkeit«Mich stört, dass das Frausein auf das Äussere reduziert wird»
Von Sulamith Ehrensperger
23.10.2020
Wird über Weiblichkeit gesprochen, gehe es immer um das Äussere, sagt Künstlerin Vero Kallen. Warum Weiblichkeit nichts mit Körbchengrösse und Schönheitsidealen zu tun hat – ein Gespräch über das Frausein.
‹Nicht jede Frau kann eine Sonnenblume sein›, sagen Sie in einem Gespräch unter Frauen im Buch ‹Anima›. Frau Kallen, wie meinen Sie das?
Auf einer Blumenwiese blühen unwahrscheinlich viele verschiedene Blumen. Die Sonnenblume ist nicht schöner als das Vergissmeinnicht. So wie jede Blume ist auch jeder Mensch auf seine Art speziell.
Welche Blume wären Sie?
Das habe ich mir noch nie überlegt. Ich glaube, da müssten Sie jemand anderen fragen. (lacht)
Haben es gut aussehende Menschen leichter?
Ich glaube schon, dass es schöne Leute einfacher haben. Die Frage ist nur: Was ist schön? Wie langweilig wäre es doch, wenn alle gleich aussehen würden. Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Was hierzulande als schön empfunden wird, gilt in anderen Kulturen als unschön und umgekehrt. In Namibia gelten Hängebrüste als Schönheitsideal, in Mauretanien sind es dicke Frauen.
Zur Person: Vero Kallen
zVg
Vero Kallen ist Künstlerin und coacht Menschen in herausfordernden Lebenssituationen. Künstlerisch widmet sie sich Aktbildern, abstrakter Malerei und Tonwerk-Installationen. Kallen lebt und arbeitet in Selzach.
Bei uns werden Frauen jünger oder schlanker gemacht, immer auf der Suche nach dem noch perfekteren Äusseren.
Schönheitsideale entstehen in den Köpfen der Menschen. Sie sind ein Konstrukt aus Gedanken und Vorstellungen der jeweiligen Gesellschaft. Wir folgen diesen, lassen uns von ihnen beeinflussen und werden in sie hineingezwängt.
Als Künstlerin, die Akte malt, und als Lebenscoach beschäftigen Sie sich tagtäglich mit der Thematik. Legen wir zu viel Wert auf Äusseres?
Ja. Mich stört, dass das Frausein auf das Äussere reduziert wird. Frausein ist ein Weg, der in jeder Altersphase eine ganz andere Bedeutung hat. Es ist eine innere Entwicklung. Findet diese nicht statt, fangen Frauen an, sich chirurgisch oder mit Nervengift zu verändern. Bei Instagram beobachte ich, dass sich Frauen so positionieren, dass die Geschlechtsmerkmale, die Brüste und der Po, wie als Objekt präsentiert sind. Wir Frauen sind so nicht bei uns, sondern verkaufen unseren Körper für Likes. Das hat für mich nichts mit Emanzipation zu tun – es ist ein grosser Rückschritt.
Die schöne Welt von Instagram & Co., da schauen wir doch gern mal hin. Welchen Einfluss haben soziale Netzwerke Ihren Beobachtungen nach?
Ihr Einfluss ist riesig. Wir Menschen sind so konditioniert, dass wir die Welt über das Denken begreifen wollen. Durch die sozialen Medien werden wir ständig in unsere Aussenwelt gerissen. Die virtuelle Welt überflutet uns mit Reizen, sie wird plötzlich zu einer Realität. Frauen bekommen Hunderte, Tausende von Likes von anonymen Männern. Ob sie sich auch so präsentieren würden, wenn diese Männer ihnen gegenübersitzen würden? Instagram ist eine Welt, in der das Erleben und damit auch die Sinnlichkeit fehlen.
Wir alle wissen eigentlich, dass es nicht förderlich für das Selbstwertgefühl ist, wenn wir uns mit anderen vergleichen. Warum tun wir es trotzdem immer wieder?
Ich glaube, das hat mit Erziehung zu tun. Schon als Kinder werden wir auf Wettkampf ausgerichtet. Dass derjenige, der die bessere Leistung ausweist, im Leben weiterkommt als du, ist tief in uns verwurzelt. Wir lernen hingegen nicht, in uns reinzuhören, zu fragen, wer ich bin und welche Fähigkeiten ich habe.
Wenn ein Mensch nackt ist, ist er dann ganz bei sich?
Ja, wenn wir nackt sind, sind wir bei uns. Wir haben die Verkleidung, die Maske, die uns schützt, nicht mehr. Beim Aktmalen geht es mir darum, zu spüren, wer der Mensch vor mir ist, hinter diesem Körper und hinter der Fassade. Meine Arbeiten möchten zeigen, dass es noch andere Bilder von Akten gibt – es geht um mehr als einen nackten Körper.
Sie malen auch Männer nackt.
Auch Männer sind nicht unverkrampft mit ihrem Körper, wenn es darum geht, nackt zu sein. Ich denke, dass auch Männer unter Druck sind, gut auszusehen, und Probleme mit Körperzonen haben, aber sie reden weniger darüber.
Älter werden: Haben wir Frauen damit ein Problem?
Wenn eine Frau sich seit der Jugend, das ganze Leben lang, nur über ihr Äusseres definiert, hat sie ihre innere Entwicklung verpasst. Das Älterwerden wird ihr Mühe machen. Für mich ist diese innere Entwicklung ein Prozess zur Weiblichkeit. Wenn wir mehr bei uns wären, würden wir uns auch wunderschön finden, wenn wir älter werden.
Wie erleben Sie das Älterwerden?
Es hat etwas Befreiendes. Ich werde bald 50 Jahre alt, als alleinerziehende und berufstätige Mutter war ich in viele Dinge eingebunden. Je älter ich werde, desto mehr kann ich diese weibliche Kraft für mich brauchen, für neue Ideen und einen neuen Weg. Das bedingt aber, dass ich nicht nur über meinen Körper nachdenke, sondern auch über das Frausein wie auch das Dasein.
Ich glaube, das kennt jede Frau: miese Tage = mieses Selbstwertgefühl. Was tun?
Wir sind zyklische Wesen, auch hormonell erleben wir jeden Monat verschiedene Phasen. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir uns bewusst werden, wie wir denken. Mit Gedanken wie ‹Sie hat viel den schöneren Körper als ich, ich habe eine solche Wampe› kritisiere ich an mir selbst herum – so kann man doch nicht glücklich durchs Leben gehen. Für mich ist klar: Unsere Gedanken machen unsere Gefühle.
Was würden Sie anderen Frauen für mehr Selbstbewusstsein mit auf den Weg geben?
Geniesse dein Leben. Lebe das, was du möchtest, und beurteile dich nicht andauernd. Und sei deine beste Freundin! Diese liebt dich für dein Dasein oder Sein, nicht für dein Aussehen. Schön ist für mich ein Mensch, der bei sich ist.