Interview zu FitnesssuchtWenn Selbstoptimierung krank macht
Von Sulamith Ehrensperger
20.8.2020
Ein Zuviel an Fitness kann Jugendliche krank machen. Wann Selbstoptimierung und perfekt retuschierte Vorbilder gefährlich werden – das Gespräch mit einem Experten für Fitness- und Muskelsucht.
Selfies posten, Fotos liken und sharen, sich bei YouTube oder TikTok präsentieren – und dabei wollen alle eine gute Figur machen. Roland Müller, wann wird aus dem Fitnesslifestyle eine Fitnesssucht?
Fitness ist unter Jugendlichen definitiv ein Thema, meist ab Beginn der Pubertät. Zwanghaft wird es, wenn es praktisch alle Lebensbereiche dominiert: Gegessen wird nur noch nach spezifischen Ernährungsplänen für Muskelaufbau oder Fettabbau und das Training ist das Wichtigste im Alltag, noch vor der Ausbildung, Freunden und Familie. Meist wird viel Geld ausgegeben für Nahrungsmittelergänzung und manchmal auch für illegale Substanzen.
Noch vor ein paar Jahren mussten sich viele Eltern Sorgen machen, dass ihre Kinder im Teenageralter zu viel trinken oder kiffen könnten – und heute ist es ein mögliches Zuviel an Fitnesslifestyle?
Ja, der Fitnesslifestyle kann zu einer Ess- und Körperbildstörung führen. Betroffene entwickeln eine starke Angst, der Körper könnte zu dünn oder zu wenig definiert sein. Daraus können sich Essverhaltensprobleme, aber auch Angststörungen und Depressionen entwickeln.
Wann wird es gefährlich?
Sehr gefährlich wird es, wenn jemand beginnt, illegale Substanzen, sprich Doping, einzunehmen zur Körperoptimierung. Diese können zu gesundheitlichen Langzeitschäden oder gar dem vorzeitigen Tod führen. Man schätzt, dass einer von fünf trainierenden Männern im Fitnessstudio Doping konsumiert.
Bereits Achtjährige sollen entsprechende Online-Angebote zur Selbstoptimierung ihrer Fitness nutzen, um abzunehmen oder sich einen Waschbrettbauch zuzulegen. Wie beeinflusst junge Menschen die Bilderflut an perfekten Körpern, die im Internet präsentiert werden?
Ich würde sagen sehr, ohne dies dramatisieren zu wollen. Bilder machen etwas mit uns, wir können uns ihnen nicht entziehen. Vieles ist fake, Doping und Photoshop. Wenn wir bei Instagram durchscrollen und innert kürzester Zeit unzählige solcher Fotos sehen, können wir nicht mehr abstrahieren, wo nachgeholfen und nachbearbeitet wurde. Diese Bilder beeinflussen unsere Grundannahmen darüber, wie ein schöner Körper auszusehen habe. Ein richtiges ‹Brainwashing› also. Je mehr sich jemand mit schwankendem Selbstwert solche Fotos anschaut, desto mehr wird er verunsichert. Er denkt: Nur wenn ich so bin wie diese Influencer, bin ich jemand.
Eine Studie ergab, dass sieben von zehn jungen Nutzern nach dem Besuch von Instagram ein schlechteres Körpergefühl hätten. Der Dauerbeschuss perfekt retuschierter und in Szene gesetzter Vorbilder zermürbt also.
Seit drei Jahrzehnten ist der mediale Druck auch bei Männern grösser einer bestimmten Körpernorm zu entsprechen – mediale Körpernormierung gilt mittlerweile also für beide Geschlechter. Der schlanke, mittlerweile eher definierte Frauenkörper wird gleichgesetzt mit einer erfolgreichen, leistungsfähigen, attraktiven, gebärfreudigen Frau. Der muskulöse, definierte Männerkörper ist der erfolgreiche Manager, der viel verdient, ein schnelles Auto fährt und bei den Frauen beliebt ist. Die ersten dokumentierten Belege dafür, dass die Körper von Jahr zu Jahr muskulöser wurden, fanden Forscher übrigens auf den ‹Playgirl Centerfolds›.
Die intensive Nutzung von Fitness-Apps bei Kindern und Jugendlichen kann zu ‹zwanghaften Handlungen, Angst und Schrecken› führen, kommt eine kürzliche Studie der Digital Health Generation zum Schluss.
Wir bewerten doch alle unsere Körper – oder wer nicht? Wir alle haben Körperstellen, die wir mögen, mit anderen sind wir unzufrieden. Wenn sie in ein Fitnessstudio gehen, ist das wie ein morphogenetisches Feld – hier werden körperliche Unterschiede potenziert. Wenn sie dazu ihr Training noch tracken, finden sie auch auf dem Handy oder der App lauter Bilder von muskulösen Körpern – was diesen Effekt noch verstärkt.
Dann also besser nicht zur Fitness gehen, wenn man unzufrieden mit seinem Körper ist?
Nein, verzichten müssen sie nicht. Aber die Atmosphäre im Studio beeinflusst das eigene Training unbewusst. Ich persönlich trainiere lieber am Morgen, weil am Nachmittag da manchmal jugendliche Männer sind, die unglaublich aggressiv trainieren und ständig ihr Shirt hochziehen, um ihre Muskeln zu bewundern. Ich merke, dass mich das ärgert.
Was ärgert Sie?
Es ärgert mich, weil es für mich selber ein Thema ist. Das ist ein wichtiger Punkt: Man muss mit sich selber ehrlich sein – und sich eingestehen können, dass man vielleicht auch eitel ist. Dann ist schon ganz viel vom Problem erkannt, an dem man arbeiten kann.
Nutzen Sie selber digitale Helfer für Ihr Training?
Nein (lacht), ich schreibe von Hand auf, mit wie viel Gewicht ich trainiert habe – auf einem Trainingsplan aus Papier.
Warum bewerten wir eigentlich immer alles?
Unser Verstand ist so konditioniert. Er ist eigentlich ein ganz kleiner Teil vom Menschen, aber wir leben viel mehr in der Gedankenwelt. Bereits in der Kindheit lernen wir, ob etwas gut oder schlecht ist, was erlaubt ist und was nicht.
Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Ich erinnere mich an einen jungen Mann, der viel abgenommen hatte. Er meinte noch immer, er sei zu dick und zu wenig trainiert. Als ich ihn im Rahmen der Therapie bei einer Spiegelbild-Konfrontation bat zu beschreiben, was er sehe, kam als allererstes eine Bewertung. Das ist mir so eindrücklich geblieben, dass wir unsere Körper dermassen bewerten – und zwar meistens negativ.
Ich kenne Leute, für die ist der Tag im Eimer, wenn sie ihre 10’000 Schritte nicht erreicht haben. Was ist mit dem Körpergefühl, wenn jemand nur noch nach den Vorgaben von Fitness-Apps, -Tracker oder -Programmen lebt?
Wir Menschen funktionieren stark über den Verstand. Wenn wir Erfolge messen, ist die Leistung im Vordergrund. Leistung ist also wichtig, wenn es um den Körper geht. Man kann sagen: Der Körper ist in unserer Gesellschaft mit Leistung assoziiert. Wenn sie sich ständig ausmessen und tracken, wie viel Kalorien sind verbrannt, wie hoch ist mein Puls, bedienen sie genau dieses Leistungsmotiv – immer noch besser, schneller, höher, weiter. Wer immer nur das macht, was die Fitness-App sagt, kann die Wahrnehmung für Signale vom Körper immer mehr verlieren. Eigentlich würde uns unser Körper ja genau sagen können, was wir gerade brauchen.
Wie kann ich einer fitnesssüchtigen Person helfen?
Das Gespräch anbieten und dabei nicht auch bewerten – etwa ‹Was du machst, ist doof› oder ‹Du spinnst doch einfach›. Das ist Gift. Der Betroffene selbst muss merken, dass er möglicherweise einer Fitnesssucht verfallen ist. Ich glaube, das Wichtigste ist, wertefrei zu beobachten. Nur so können wir Betroffene dazu bewegen, offen über ihre Probleme zu sprechen.
Hier finden Sie einen Vortrag von Roland Müller zum Thema «Körperkult und Fitnesssucht bei jugendlichen Männern».
Weitere Informationen für Jugendliche und Eltern bietet das Informationsportal «Jugend und Medien».