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Bötschi fragt Marcel Gisler: «Dann war von einem Tag auf den anderen Schluss»
Von Bruno Bötschi
31.7.2019
Früher machte Marcel Gisler sein Erfolg depressiv. Der Regisseur («Rosie») im Gespräch über fehlendes Selbstbewusstsein, seine Erfolgsquote beim Flirten – und warum er mindestens acht Stunden Schlaf braucht.
Restaurant Fischers Fritz in Zürich – kurz nach 14 Uhr. Die Location: sommerlich. Der Kellner serviert Mineralwasser und Weisswein.
Herr Gisler sieht etwas müde aus. Der Grund: Er ist gerade mit der Postproduktion seines Filmes «Aus dem Schatten» beschäftigt, seinem ersten Spielfilm für das Schweizer Fernsehen. Aber darüber – also über die Dinge, die ihn gerade ermüden –, spricht er an diesem Nachmittag nur, wenn das Aufnahmegerät aus ist.
Geht's gut? Ja, klar geht's gut. Na dann, los mit der Fragerei – und wie immer: Wir fangen gaaanz langsam an.
Herr Gisler, wir machen heute ein Frage-Antwort-Spiel: Ich stelle Ihnen in den nächsten 30 Minuten möglichst viele Fragen – und Sie antworten möglichst schnell und spontan. Passt Ihnen eine Frage nicht, sagen Sie einfach «weiter».
Ich bin gerade etwas im Stress. Falls mein Handy nochmals läuten sollte, müssten wir das Interview unterbrechen.
Kein Problem. Was ist Ihnen lieber: ein Tag ohne Handy oder einen Sack Insekten essen?
Ich bin lieber einen Tag ohne Handy unterwegs.
Welches Buch würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?
«Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» von Marcel Proust – grosse Literatur. Und es hat genug Seiten, dass man es nicht gleich ausgelesen hat.
In einem Porträt im «Magazin» des «Tages-Anzeiger» sagten Sie 1992, Essen und Schlafen seien die einzigen Konstanten in Ihrem Leben. Ist das so geblieben?
Essen und Schlafen ist immer noch etwas sehr Wichtiges, und ich nehme mir dafür nach wie vor viel Zeit. Und es ist jedoch noch eine Konstante dazu gekommen – die Arbeit.
Schlafen Sie immer noch acht Stunden, egal, wann Sie ins Bett gekommen sind?
Wenn möglich, ja.
Stimmt es, dass Sie während Dreharbeiten nur die Hälfte Ihrer normalen Schlafzeit benötigen?
Inzwischen gehe ich während Dreharbeiten früher ins Bett, damit ich genug Schlaf bekomme, und ich trinke nur zwei Glas Wein statt vier.
Fallen Sie unangenehm am Filmset auf, wenn Sie zu wenig geschlafen haben?
Ich denke nicht, aber das müssten Sie das Team fragen. Es fühlt sich an, als wären meine Batterien nicht richtig aufgeladen – und den Zustand mag ich nicht.
Ist Ihre Art zu leben nachahmenswert?
Keine Ahnung.
Der deutsche Kinofilm- und Fernsehproduzent Günter Rohrbach sagte einmal: «Film ist ein Überlebensmittel – ohne Film würde der Mensch seelisch verkümmern.» Wahr oder nicht?
In den 1970er Jahren war dem sicher so. Aber die Superhelden-Filme, die heute das grösste Publikum weltweit generieren, benötigen wir definitiv nicht, um überleben zu können.
Die Fragen scheinen Gisler zu gefallen. Momoll.
Können Filme Antworten geben auf die Frage, wie Menschen leben sollen?
Durchaus – der richtige Film oder auch das richtige Buch im richtigen Moment kann in einem Menschen vieles auslösen. Vor Jahren konnte ich während der «Berlinale» einem Q&A-Interview mit Krzysztof Kieślowski beiwohnen. Der polnische Filmemacher machte auf mich trotz seiner vielen wunderbaren Filme einen ziemlich resignierten Eindruck. Kieślowski sagte, ein Film könne die Welt nicht verändern. Vielleicht dachte er damals aber nur in zu grossen Massstäben ...
... Sie meinen den Weltfrieden oder so etwas?
Genau – meine Filme haben etwas bewirkt, im Kleinen, auch wenn ich das oft erst Jahre später erfahren habe. Als ich 1997 «De Fögi isch en Souhung» drehte, war das einer der ersten schwulen Filme in der Schweiz überhaupt. Viele Schwule haben mir gesagt, dass das so etwas wie ein Erweckungserlebnis für sie war. Plötzlich war da ein Film, der eine Identifikation ermöglichte. Ähnlich erging es mir mit meinem ersten Spielfilm «Tagediebe». Noch Jahre danach traf ich in Berlin Menschen, die meinten, sie seien wegen mir beziehungsweise wegen meines Films in die deutsche Metropole gezogen. Manchmal fragte ich dann, ob das ein guter oder schlechter Entscheid gewesen sei.
Wie lauteten die Antworten?
Einige bereuten es, andere waren froh darüber.
Weinen Sie im Kino?
Oh, erst gestern Abend habe ich es wieder getan.
Bei welchem Film?
Das kann ich nicht öffentlich sagen, sonst muss ich mich vor meinen Freunden schämen (lacht schallend). Es war eine Oberschnulze ... ach komm, ich verrate es doch: Ich sah «Rocketman».
Bei welchen Szenen mussten Sie weinen?
Die eigentliche Geschichte brachte mich nicht zum Weinen, aber die Musik – bei den frühen Songs aus den 70ern wie «Saturday Night's Alright For Fighting» sind Tränen geflossen. Die Hits meiner Jugend, es waren nostalgische Tränen.
Schauen Sie noch Fernsehen?
Selten.
Netflix-Abo – ja oder nein?
Nein – ich hab das Abo nach einem Jahr abbestellt. Wenn ich mit Dreharbeiten beschäftigt bin, kann ich es mir aus zeitlichen Gründen nicht erlauben. Finde ich eine Serie wirklich gut, gehöre ich zu den Menschen, die eine Folge nach der anderen schauen und dabei gern die Zeit vergessen. Bei mir würde es so weit gehen, dass es karrieregefährdend wäre.
Ihre Lieblingsserie der 1980er Jahre?
Ich bin ein Serien-Späteinsteiger. Begonnen habe ich wahrscheinlich mit «Six Feet Under» – aber ich glaube, diese TV-Serie wurde erst in den 1990er Jahren produziert. In den 1980er Jahren entdeckte ich das Kino, deshalb mussten Serien hintenanstehen. Dafür könnte ich einige aus den 1970er aufzählen – die «Bezaubernde Jeannie» zum Beispiel oder «Verliebt in eine Hexe».
Ihre aktuellen Lieblingsserien?
«Breaking Bad» fand ich extrem gut. «True Blood», weil ich Vampirstorys mag, «Mad Men» habe ich noch nicht gesehen, aber davon schwärmen viele – und «Handmaid's Tale».
Letztere kenne ich nicht.
Ist brutal und düster, und ab der zweiten Staffel ist es eigentlich ein Folterporno, «Handmaid's Tale» zeigt eine wahnsinnig beklemmende Dystopie: Die USA haben sich in einen faschistisch-theokratischen Staat verwandelt. Die Evangelikalen haben das Regime übernommen. Aufgrund einer Vielzahl von Umweltproblemen sind die meisten Frauen unfruchtbar. Es gibt nur noch ganz wenige, die Kinder gebären können. Diese Frauen werden als Sklavinnen gehalten und regelmässig während ihren fruchtbaren Tagen vergewaltigt – natürlich ist das dann mit einer Bibelstelle unterlegt, es ist ja alles gottgewollt. Schwule heissen «Geschlechtsverräter» und weden gehängt. «Handmaid's Tale» ist unglaublich gut gemacht, aber wirklich heavy stuff.
Sind Sie gut im Nichtssagen?
Gisler lächelt vielsagend.
Das Trauma Ihrer Jugend?
Das ist mir zu persönlich – weiter.
Wann hatten Sie zum ersten Mal eine Filmkamera in der Hand?
Ich entdeckte zuerst das Kino, bis ich irgendwann spürte: Filmemachen interessiert mich. Als ich mit 15 oder 16 die erste Kamera kaufte, steckten schon einige Ambitionen dahinter, sonst hätte ich die Investition nicht getätigt. Am Anfang war alles noch sehr experimentell und verspielt.
Wirklich wahr, dass der Film ein Ersatz für die Reisen war, die sich Ihre Eltern nicht leisten konnten?
Das kann man so sagen. Der Film war Türöffner für die grosse, weite Welt.
Was hielten Ihre Eltern und Ihre Freunde davon, dass Sie Regisseur werden wollten?
Sie glaubten, es sei nur ein Spleen und dachten wahrscheinlich: «Irgendwann wird er schon noch einen ordentlichen Beruf ergreifen.» Gleichzeitig muss ich aber sagen, dass mir meine Eltern nie im Weg standen. Ihr Widerstand war sanfter. Sie fragten mich etwa, ob ich nicht lieber einen sicheren Job ergreifen wolle.
Mit 21 zogen Sie aus dem provinziellen Altstätten im Rheintal in die Weltstadt Berlin. An Selbstbewusstsein fehlte es Ihnen anscheinend nicht …
... vielleicht hatte es auch mit Naivität und Unverfrorenheit zu tun. Ich ging nicht nach Berlin und sagte: «Hey, ich bin der grosse Macher.» Die ersten drei Jahre waren dann auch nicht sehr einfach.
Eine ehrliche Haut, dieser Gisler. Aber wir wollen noch etwas weiter bohren, noch etwas tiefer gehen. Unter die Gürtellinie? Vielleicht.
In Berlin wollten Sie an der Film- und Fernsehakademie studieren, bestanden aber die Prüfung nicht.
Noch schlimmer – ich wurde nicht für die zweite Runde zugelassen! Der Besuch der Akademie hätte vor allem meine Eltern beruhigt: Okay, jetzt macht der Sohn wenigstens eine Ausbildung. In der Folge schrieb ich mich für ein Studium ein – zuerst für Literaturwissenschaften. Bis ich realisierte, dass es zu viel Zeit wegfrass und ich daneben meine Filmarbeiten nicht verwirklichen konnte. Danach wollte ich Theaterwissenschaften studieren, doch ich fiel trotz einer guten Maturanote unter den Numerus clausus. Also studierte ich Ethnologie. Zur gleichen Zeit gründete ich mit Freunden eine Filmgruppe. Wir übten uns im Drehbuchschreiben, Inszenieren und Spielen.
Wie überlebten Sie in dieser Zeit?
Ich bekam Stipendien aus der Schweiz.
Machen Sie Niederlagen stärker?
Die Ablehnung an der Akademie verunsicherte mich natürlich. Aber ich war ja in Berlin, und dort waren viele meiner Idole und Vorbilder fassbar. Rainer Werner Fassbinder drehte zu jener Zeit gerade «Querelle». Ein befreundeter Filmausstatter berichtete mir regelmässig über die Dreharbeiten. Und ich traf Rosa von Praunheim. Ihm erzählte ich von meinen Ideen, von meinen Träumen und von der Ablehnung an der Akademie. Er gab mir Tipps, machte mir Mut. Von Praunheim meinte, ich solle es so machen wie Schauspieler Christoph Eichhorn, Hauptdarsteller im Film «Der Zauberberg»: «Weisst du, der hat einfach irgendwann eine Kamera in die Hand genommen und losgefilmt.» Heute wäre das kaum mehr möglich, im Filmgeschäft gibt es fast keine Autodidakten mehr. – Übrigens, 25 Jahre nach meiner erfolglosen Bewerbung habe ich es doch noch an die Akademie geschafft, als Dozent. Eine kleine Genugtuung.
Filmemacher sind Geschichtenerzähler: Was interessiert Sie am Erzählen?
Die Geschichte ist das Transportmittel des Themas, die formale Brücke zum Zuschauer mit Konflikten, Wendepunkten, Klimax, Auflösung und so weiter. Mir hingegen ist sie nicht so wichtig. Ich mag kryptische, atmosphärische Filme ohne die übliche Storyline. Ich tauche gerne in emotionale Momente ein. Wahrscheinlich sind deshalb die Anfänge meiner Filme oft zu langsam. Ich steige nie direkt in eine Geschichte ein, sondern mache zuerst eine Auslegeordnung – bevor sich langsam ein möglicher Konflikt herauskristallisiert.
Finden Sie die Geschichten oder finden die Geschichten Sie?
In letzter Zeit fanden mich die Geschichten. «Electroboy» zum Beispiel. Vor etwa zehn Jahren wurde ich von einer Produktionsfirma gefragt, ob mich der Stoff als Spielfilm interessieren würde, aber ich sagte ab. Fünf Jahre später kam erneut eine Anfrage von einer anderen Firma, unabhängig von der ersten, ob ich den Stoff als Dokfilm realisieren möchte. Dieser Stoff hat mich wirklich gesucht, hartnäckig – und ich habe nachgegeben.
Wer erfolgreiche Filme machen will, braucht ein Gespür dafür, was die Menschen beschäftigt.
Ich schiele nie auf ein möglichst grosses Publikum. Für mich ist die persönliche Relevanz des Themas wichtig. Und ich beschäftige mich in meinen Filmen oft mit Aussenseitern.
Können Sie nur gute Filme machen über Themen, die mit Ihren eigenen Lebensgeschichten etwas zu tun haben?
Ich hoffe nicht – jedenfalls ist es beim neuen Film, den ich für das Schweizer Fernsehen SRF gedreht habe, nicht so. Der Fernsehfilm «Aus dem Schatten» erzählt ein Stück Schweizer Psychiatriegeschichte aus den 1970er Jahren. Aber wer weiss, vielleicht habe ich diesen Film auch nur gemacht, weil es eigentlich auch wieder um Randständige geht. Irgendwie habe ich zu ihnen eben doch eine besondere Verbindung.
Das müssen Sie erklären.
Mein Vater war ein Verdingbub, meine Mutter ebenfalls eine Entwurzelte. Sie ist nach dem Zweiten Weltkrieg aus Norditalien in die Schweiz gekommen.
Oft traurig?
Phasenweise, aber dann gibt es auch längere Zeiten ohne Schwermut – so wie jetzt gerade.
Sollten wir alle öfter weinen?
Ich weiss nicht. Aber die Fähigkeit, weinen zu können, ist sicher keine schlechte. Ich selber kann leider nur im Kino weinen.
Wofür sind Tränen gut?
Mit den Tränen finden Probleme, die ungelöst in uns hocken, einen Ausgang. Tränen können einen emotional wieder ins Gleichgewicht bringen.
Mit welchem Tier haben Sie viel gemeinsam?
Das muss ein Tier sein, das nach aussen hin ruhig wirkt, aber im Inneren aufgewühlt ist. Wer weiss, vielleicht ist der Siebenschläfer innerlich wahnsinnig nervös?
Oder wie wäre es mit einem Maulwurf?
Ich habe vor wenigen Tagen einen toten Maulwurf gesehen und gedacht: Was muss das für ein seltsames Tier sein, dass sich sein Leben lang durch die Erde gräbt? Nein, ein Maulwurf möchte ich nicht sein.
Zu welcher Tageszeit sind Sie am leichtesten erregbar?
Morgens.
Haben Sie jemals ‚Nein‘ zu einem attraktiven Mann gesagt?
Ja, leider.
Was wollen alle Männer hören?
Den richtigen Satz, dass sie kapieren, dass man sie wirklich erkennt, in dem was sie als Mensch darstellen. Nur zu sagen, dass jemand hübsch ist, reicht nicht.
Ihr beste Erfahrung mit Frauen?
Als Schwuler habe ich keinen erotischen Stress mit den Frauen. Frauen sind gute Freundinnen, und wenn sie erkennen, dass ich homosexuell bin, geht alles viel lockerer. Kürzlich sagte ein Freund zu mir: «Marcel, wenn du so entspannt auf Männer zugehen würdest, wie du das bei den Frauen tust, dann wärst du unglaublich erfolgreich.»
Sollten die Menschen mehr polygam lieben, weil die meisten monogame Beziehungen scheitern?
Eine gute Idee, aber das liegt wahrscheinlich nicht in der Natur des Menschen. Der Monogamie- und Ehe-Gedanke ist tief in unserer Sozialisation verwurzelt. Es gibt jedoch viele gute Beispiele von offenen schwulen Beziehungen. Natürlich gibt es auch dort manchmal Probleme, aber ich finde, viele Schwule machen das ziemlich gut.
Bereits Ihr erster langer Kinospielfilm «Tagediebe» wurde 1985 am Filmfestival Locarno mit dem «Silbernen Leoparden» ausgezeichnet. Wie fühlt es sich an, wenn der grosse Traum in Erfüllung geht?
Ich bekam Durchfall vor Aufregung. Als wir den Film drehten, dachte ich, ich würde ihn im kleinen Kreis vorführen – im damaligen Café Central am Nollendorfplatz in Berlin etwa, dort gab es regelmässig Filmabende. Als dann alles anders kam als geplant, bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich hatte noch nie an einem Filmfestival teilgenommen. Und plötzlich werde ich vor 3’000 Menschen auf der Piazza Grande geehrt. Ich bekam auch noch eine Einladung für das Museum Of Modern Art in New York. Es war meine erste Reise nach Übersee. Natürlich machte das Spass, aber gleichzeitig war ich auch total überfordert. Nach meinen ersten vier Filmen schlitterte ich jeweils in eine Krise, obwohl sie gut liefen.
Warum?
Mein Selbstbewusstsein war zu klein, um den Erfolg und den Erwartungsdruck, auch den eigenen, verarbeiten zu können. Behaupten, man sei ein Filmemacher, ist viel einfacher, als sich danach als Filmemacher behaupten zu können. Nach «De Fögi isch en Souhund», meinem vierten Film, war die Krise am schlimmsten. Ich hatte einen Zusammenbruch, körperlich und psychisch. Ich brauchte eine längere Auszeit als Filmer, um aus der Depression herauszufinden. Ich war nie so selbstsicher wie Dani Levy ...
... der Basler Schauspieler, der 1984 den Küchenburschen Peperoni mimte in der Schweizer TV-Serie «Motel», ...
... er ging fast zur gleichen Zeit wie ich nach Berlin, um seinen ersten Film zu drehen. Ich habe ihn immer so wahrgenommen, als würde er mit viel Selbstbewusstsein voranschreiten. Ich dagegen haderte ständig mit mir selbst. Obwohl da sicher viel Projektion mit im Spiel ist. Natürlich kennt er künstlerische Selbstzweifel genauso wie ich, aber vielleicht nicht so grundlegend.
2003 gingen Sie zum Schweizer Fernsehen und arbeiteten als Vollzeitautor für die Serie «Lüthy & Blanc».
Der Job war ein Auffangnetz – und «Lüthy & Blanc» rettete mich auch finanziell. Ein Knochenjob, der handwerklich anspruchsvoll, aber künstlerisch nicht immer erfüllend war. Ich machte ihn vier Jahre. Dann war von einem Tag auf den anderen Schluss. Ich sass gerade für ein Brainstorming mit dem Redaktor und dem Autorenteam zusammen, als wir eine SMS erhielten, in der uns mitgeteilt wurde, dass noch höchstens vier Folgen produziert werden würden.
Gisler stieg 2003 bei Folge 155 von «Lüthy & Blanc» ein und schrieb in den darauffolgenden Jahren insgesamt 34 Folgen.
Im Sommer 2013 kam nach 14 Jahren Pause mit «Rosie» Ihr fünfter Spielfilm in die Kinos. Er erzählt eine hochdramatische, zuweilen auch pathetische Geschichte in fast fröhlicher Leichtigkeit. Wie haben Sie das geschafft?
Das hat wahrscheinlich mit dem persönlichen Zugang zu der Geschichte zu tun. 50 bis 60 Prozent des Filmes ist autobiografisch.
Schauspieler verbringen den Tag oft damit, auf perfekte technische Verhältnisse zu warten. Sie müssen auf Kommando fehlerlos sein. Was muss ein Regisseur tun, damit das funktioniert?
Manche Filmemacher kümmern sich mehr um die Technik als um die Schauspieler und Schauspielerinnen. Bei mir ist es umgekehrt. Wenn zwischen mir und den Schauspielern kein Vertrauen da ist, dann können sie nicht loslassen, sie kontrollieren sich selbst zu stark. Das spürt der Zuschauer sofort.
Wie erzeugen Sie dieses Vertrauen?
Die Schauspielerinnen und Schauspieler müssen spüren, dass es mir wie ihnen um ihre bestmögliche Performance geht. Und dass ich über ein gutes Auge verfüge und über die Mittel, sie zu führen. Darüber hinaus ist Vertrauen eine gegenseitige Sache. Je mehr Vertrauen ich ihnen entgegenbringe, umso mehr kriege ich davon zurück.
«Ein guter Regisseur nimmt seiner Crew die Angst.» Wahr oder nicht?
Leider nicht wahr – es gibt Filmemacher, die auf dem Set vor allem Terror verbreiten und es trotzdem schaffen, gute Filme zu realisieren. Mein Weg ist das nicht. Macht jemand einen groben Fehler, muss ich das nicht auch noch anmerken und sie oder ihn vor allen anderen blossstellen. Ich schätze es, wenn eine positive Stimmung am Set herrscht.
Ihr schlimmster Fauxpas an einem Filmset?
Der grösste Fauxpas ist, wenn man seine Vorstellung, die man beim Schreiben des Drehbuches hatte, auf dem Set unter allen Umständen durchsetzen will. Und deshalb das Geschenk einer unerwarteten Interpretation nicht erkennt. Das ist mir als ich jünger war wohl öfter passiert. Heute bin ich offener, kann Input von aussen besser zulassen.
Bei welcher Schauspielerin, bei welchem Schauspieler müssen Sie sich noch entschuldigen?
Ich muss den Schauspielerinnen und Schauspielern, die ich während der Postproduktion aus dem Film «Aus dem Schatten» rausgeschnitten habe, noch eine Mail schreiben.
Vom amerikanischen Schriftsteller John Updike stammt der Satz: «Berühmtheit ist eine Maske, die das Gesicht frisst.» Tun Ihnen Filmstars manchmal leid?
Wer 15 Millionen US-Dollar für einen Film kassiert und sich danach beklagt, dass er nur noch mit Bodyguards auf die Strasse gehen kann, sollte einem eigentlich nicht leid tun.
Das Gespräch neigt sich langsam dem Ende zu. Der Interviewer ist immer noch geflasht davon, wie ehrlich sich Gisler präsentiert.
Gibt es ein Musikstück, das Ihr Leben verändert hat?
Das ist mir öfter passiert. In meiner Jugend war Musik viel stärker als heute Ausdruck des eigenen Lebensstils und der Weltsicht.
Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Das Album «Hunky Dory» von David Bowie aus dem Jahr 1971 und darauf vor allem das Stück «Life on Mars». Bis dahin hörte ich vor allem Hitparademusik. Mit dreizehn liebte ich ABBA über alles. Und dann kam plötzlich dieses seltsame, spindeldürre Wesen mit seiner roten Vokuhila-Frisur daher. In der «Bravo» wurde David Bowie als «extraterrestrisch» und «schwul» oder «bisexuell» angekündigt. Seine Musik hat mich so sehr aufgewühlt, dass ich das Album eine Zeit lang nicht mehr hören konnte. Damals fing ich an zu kiffen.
Werden Sie böse, wenn Sie jemand Schwächling nennt?
Das sagt niemand zu mir (lacht).
Wie heisst Ihr bester Freund mit Vornamen?
Rudolf, Stefan, Philipp. Alle drei sind beste Freunde.
Worum beneiden Sie Ihre drei besten Freunde?
Rudolf um seine sprachlichen und literarischen Fähigkeiten. Stefan darum, dass er das Leben fast immer leicht und optimistisch zu nehmen weiss. Philipp um seinen Erfolg bei den Männern.
In Ihrem nächsten Film geht es um den Umbruch in der Psychiatrie in den 1970ern: Was interessiert Sie an diesem Stoff?
Die Ambivalenz der Story. In Fernsehfilmen ist das Thema oft zu ausformuliert, zu deutlich, zu klar. «Aus dem Schatten» erzählt eine Geschichte aus der Sicht einer jungen Sozialarbeiterin. Sie will in einer rückständigen psychiatrischen Klinik Reformen realisieren. Es geht um ihren Kampf mit dem Klinikleiter. Am Schluss weiss man nicht, ob die Sozialarbeiterin zu ehrgeizig vorging um ihre Vision zu verwirklichen, also ohne Rücksicht auf Verluste. Gleichzeitig ist sie eine starke Frauenfigur, die etwas erreichen will für das Wohl der Patienten. Das Gleiche gilt für den Klinikleiter. Bei ihm fragt man sich ständig: Ist er ein kaltherziger Unmensch? Würde er über Leichen gehen, damit er seine Position wahren kann oder ist er doch loyal und emphatisch?
Wie sehr sind die Medikamentenversuche in Ihrem Film ein Thema, die in psychiatrischen Kliniken hierzulande stattgefunden haben?
Die Versuche werden im Film angedeutet, aber sind kein zentrales Thema. Die Geschichte spielt in den 1970er Jahren, und damals hat man diese Versuche nicht als Skandal wahrgenommen.
Ihr nächster Termin?
Ich werde im nächsten Frühling in Göttingen, Deutschland, eine Theateraufführung inszenieren – oder meinen Sie heute?
Ja, heute.
Heute habe ich noch ein Gespräch mit dem Drehbuchautor von «Aus dem Schatten» für zusätzliche Off-Texte.