Schicksal Lotti Latrous – ihr schönstes Geschenk

Von Lotti Latrous

5.12.2019

Lotti Latrous über ihre Arbeit in den Elendsvierteln von Abidjan in der Elfenbeinküste: «Auch wenn wir vieles oft nicht verstehen, am Ende ergibt alles einen Sinn.»
Lotti Latrous über ihre Arbeit in den Elendsvierteln von Abidjan in der Elfenbeinküste: «Auch wenn wir vieles oft nicht verstehen, am Ende ergibt alles einen Sinn.»
Bild: Tomas Wüthrich

Lotti Latrous könnte ein privilegiertes Leben führen. Doch die Schweizerin verzichtet darauf. Sie widmet sich stattdessen seit 20 Jahren in Afrika sterbende Frauen und kümmert sich um deren HIV-infizierten Kinder.

Lotti Latrous, geboren 1953 in Dielsdorf ZH, gründete in den Elendsvierteln von Abidjan in der Elfenbeinküste ein Ambulatorium. Kaum war es eingeweiht, wurde ihr Mann von seinem damaligen Arbeitgeber nach Kairo versetzt, und Latrous musste eine Entscheidung treffen, die ihr schier unerträglichen Kummer bereitete. Sie liess Mann und Kinder allein ziehen und blieb.

In den Jahren 2003, 2004 und 2007 erschienen drei Bücher über sie, 2004 wurde sie zur Schweizerin des Jahres gewählt. Ein viertes Buch liegt nun deshalb vor, weil sich Lotti Latrous von Gabriella Baumann-von Arx, der Autorin der drei ersten Bücher, überzeugen liess, dass es an der Zeit wäre, nun selbst ein Buch zu schreiben.

Um Rückschau zu halten, Rückschau auf ein Leben, das Latrous egoistisch nennt – andere würden sagen, es war selbstlos.

Dass ihre Familie heute noch intakt ist, empfindet Lotti Latrous als das grösste Geschenk. Ebenfalls ein Geschenk ist, dass sie – nach einer persönlichen Krise – den Weg zurück in ihr Hilfswerk fand und sich dieses so entwickelte, wie sie es sich in ihren kühnsten Träumen nicht ausgemalt hätte. Sie ist absolut überzeugt: «Auch wenn wir vieles oft nicht verstehen, am Ende ergibt alles einen Sinn.»

«Bluewin» publiziert das Kapitel «Was ist – annehmen» aus dem neuen Buch «Was war. Was ist. Was zählt. Mein etwas verrücktes Leben» als exklusiven Vorabdruck. Die Leserinnen und Leser können zudem am Ende der Geschichte das Buch zu einem vergünstigten Preis direkt beim Verlag bestellen.

Es handelt sich hier um einen originalen Textauszug. Deshalb erfolgten keine Anpassungen gemäss «Bluewin»-Regeln.

Was ist – annehmen

Es ist Ende März 2019. Ich sitze in unserer Stube in Genf, schaue aus dem Fenster in unseren Garten. Freue mich über wild wachsende Krokusse, Primeli, Schlüsselblüemli und Stiefmütterchen, das strahlende Gelb unserer Forsythie. Ich sehe, dass die Schneeglöckchen schon verblüht sind, dafür die Laubblätter der Tulpen aus dem Boden stossen und dass die Knospen unseres riesigen Magnolienbaums kurz davor stehen, sich in ihrer ganzen Pracht zu zeigen. Ich höre dem Zwitschern der Vögel zu und muss schmunzeln, als die beiden Eichhörnchen, ein braunes und ein schwarzes, die sich unseren Garten als Zuhause ausgesucht haben, über den Rasen jagen. Idylle pur. Und ich kann es geniessen, was mir früher nie gelingen wollte. Vor Heimweh nach Adjouffou bin ich damals fast gestorben, und auch jetzt macht sich dieses Gefühl noch breit, aber es ist anders, aushaltbar geworden.

Lotti Latrous hat einen bemerkenswerten Weg hinter sich: Von der privilegierten Ehefrau und Mutter zur unbeirrten Kämpferin im Slum von Adjoffou, einem Slum der Wirtschaftsmetropole Abidjan.
Lotti Latrous hat einen bemerkenswerten Weg hinter sich: Von der privilegierten Ehefrau und Mutter zur unbeirrten Kämpferin im Slum von Adjoffou, einem Slum der Wirtschaftsmetropole Abidjan.
Bild: Tomas Wüthrich

Vor etwas mehr als einem Monat haben wir – zusammen mit unserem Personal und all unseren über fünfzehnjährigen Jugendlichen – das Jubiläum zum zwanzigjährigen Bestehen des Centre L’Espoir gefeiert. Nicht im Zentrum selber, sondern am Strand.

Es wurde zu einem unvergesslichen Fest, mit Musik und Tanz, feinem Essen, afrikanischem Bier und Hibiskusblütentee. Als wir um fünf Uhr abends wieder in Grand-Bassam waren, erwartete uns eine Überraschung: Das Pflegepersonal, das an diesem Tag das Zentrum gehütet hatte und ebenfalls mit einem feinen Mittagessen verwöhnt worden war, hatte mit den Patienten und den Kleinen Dekorationen gebastelt und den Hof damit geschmückt. Wunderbar! Sogar die vierjährige Jolie Julie – sie heisst eigentlich nur Julie, aber ich habe sie zu Jolie Julie umgetauft – hat mitgeholfen.

In ein paar Tagen werde ich von Genf wieder zurück nach Grand-Bassam fliegen und dort, neben vielem anderen auch, Ostern vorbereiten. Dieses Jahr würde Ostern so schön werden wie nie zuvor. Zumindest stellte ich es mir so vor. Ich war aber auch sehr nervös, ob es denn auch wirklich so schön werden würde, wie ich es mir erhoffte, denn, nun ja, es könnte auch anders kommen.

Lotti Latrous kam tausendfach zu spät. Aber zusammen mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – die meisten von ihnen waren selber HIV-infiziert – konnte sie auch viele Leben retten.
Lotti Latrous kam tausendfach zu spät. Aber zusammen mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – die meisten von ihnen waren selber HIV-infiziert – konnte sie auch viele Leben retten.
Bild: Tomas Wüthrich

Aber lassen Sie mich von Anfang an erzählen. Im Oktober 2018 – es war ein prächtiger Herbsttag wie aus dem Bilderbuch – sassen mein Mann Aziz, unsere älteste Tochter Sonia, ihr Mann Sylvain, ihre kleine Tochter Léa und ich im Garten, in den ich nun schaue, tranken Kaffee und assen Kuchen, und kaum war der letzte Krümel weg, meinte Sonia wie aus dem Nichts heraus: »Maman, Léa ist jetzt sechs und alt genug, alle notwendigen Impfungen über sich ergehen zu lassen.«

»Impfungen? Die hatte sie doch schon alle?«

»Ich rede nicht von Masern, Mumpf und Röteln.«

»Sondern?«

»Von Gelbfieber und Hepatitis B.«

Ich stand auf dem Schlauch, was Sonia mir unschwer ansehen konnte.

»Komm, Maman«, sagte sie, »jetzt zähl mal eins und eins zusammen.«

»Ihr ...?« Ich wagte nicht, weiterzusprechen.

»Ja, wir kommen nächste Ostern nach Grand-Bassam. Und das für volle zwei Wochen!«

Zum Glück sass ich auf einem Stuhl, sonst wäre ich ganz sicher umgekippt. Mir wurde schwindlig, mein Herz klopfte, als wollte es mir aus der Brust springen.

Ich brachte kein Wort heraus, also fuhr Sonia fort: »Ich freue mich darauf, endlich selbst zu erleben, was dich so an Afrika fasziniert, was dich nicht in Ruhe lässt, wenn du hier bist. Freue mich darauf, euer Lebenswerk kennen zu lernen.«

Jetzt schaute sie zu Aziz, der, obwohl ganz offensichtlich eingeweiht, sehr gerührt war.

Als ich mich wieder gefasst hatte, sagte ich nur: »Dann bucht heute noch!«

Sarah, unsere Jüngste, kannte durch ihre regelmässigen Besuche Adjouffou und auch Grand-Bassam bereits. Und wollte auch mitkommen, genau wie ihr Freund Rik. Mir war klar, dass unser Sohn Selim nicht mit von der Partie sein würde, weil er nicht so viele Ferientage hatte. Aber ihn würde ich ja einige Monate später, im September 2019 sehen, denn es war längst abgemacht, dass Aziz und ich ihn zu seinem vierzigsten Geburtstag auf Madeira besuchen würden.

Ein gutes Gespann: In Marie-Odile Gabet (links) hat Lotti Latrous die perfekte Vertretung gefunden.
Ein gutes Gespann: In Marie-Odile Gabet (links) hat Lotti Latrous die perfekte Vertretung gefunden.
Bild: Tomas Wüthrich

Und jetzt sitze ich also da, schaue in den Garten und habe grosse Angst vor dem, was auf mich zukommen wird. Was, wenn sie nicht ertrugen, was sie sehen würden? Wenn sie nicht verstehen würden, was mich treibt? Wenn sie nicht nachvollziehen konnten, was mich glücklich macht? Aber schliesslich schob ich meine Bedenken zur Seite, hoffte einfach, dass »es chunnt, wies mues«. Und beschloss, mich ab sofort nur noch auf Ostern und die Tage mit meiner Familie zu freuen.

Aziz, der meine Bedenken vom ersten Moment an nicht geteilt hatte, war guten Mutes und in aufgeräumter Stimmung. Er buchte für uns alle zwei Nächte in einem kleinen Hotel in Assinie, eine gute Stunde von Grand-Bassam entfernt am Meer, und bastelte an einem umfassenden Menüplan für die übrigen zwölf Tage in Grand-Bassam. Mit anderen Worten: Seine Vorfreude war mindestens so gross wie meine. Und er hatte ja recht, er musste planen, waren wir doch sieben Personen, für die er kochen würde. Ich musste eigentlich gar nichts tun, ausser die Betten bereitstellen in Grand-Bassam, und, ja klar, das Osterfest für das ganze Zentrum organisieren. Denn, wenn Aziz, Sonia, Sarah, Sylvain, Rik und Léa hier sein würden, waren Schulferien – das bedeutete Hochbetrieb. Alle würden sie da sein, vom kleinsten Baby über unsere Kleinkinder und Teenager bis hin zu unserem Ältesten, Yusuf, der vor ein paar Monaten vierundzwanzig geworden war. Achtunddreissig Kinder und Jugendliche warteten gespannt auf meine Familie, vor allem natürlich auf Léa, unsere Enkelin.

Die Kinder, die als Vollwaisen zu Lotti Latrous kommen, sind ihr lieb geworden wie die eigenen. Es wundert deshalb nicht, dass sie, genauso wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sehr bewusst von «unseren» Kindern spricht.
Die Kinder, die als Vollwaisen zu Lotti Latrous kommen, sind ihr lieb geworden wie die eigenen. Es wundert deshalb nicht, dass sie, genauso wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sehr bewusst von «unseren» Kindern spricht.
Bild: Tomas Wüthrich

Nun, Ostern 2019 wurde für mich zu einem ganz besonderen Fest. Aziz und ich waren schon in der Elfenbeinküste und holten Klein Léa, Sonia, Sarah, Sylvain und Rik am Flughafen ab. Die Hitze, erzählten sie später unisono, warf sie schier um, als sie aus dem Flugzeug stiegen. Sonia sah glücklich aus, für sie, so sagte sie mir später, war es ein bisschen wie Heimkommen, hatte sie doch fünf Jahre in Abidjan gelebt und im französischen Gymnasium ihre Matura gemacht. Sie freute sich darauf, einige Plätze aufsuchen zu können, die sie von früher kannte, und zwei, drei Freunde von damals. Léa war ganz aus dem Häuschen, sie wollte sofort zu den Kindern. Ich erklärte ihr, dass um diese Zeit – es war elf Uhr nachts, als wir in Grand-Bassam ankamen – alle schon schliefen und sie sich bis am Morgen gedulden müsse, was sie – müde, wie sie war – klaglos akzeptierte.

Und ja, die zwei Wochen waren wunderschön, so voller Harmonie, Freude, Lachen, so voller Liebe, Zärtlichkeit und Spass, dass es irgendwie schwer in Worte zu fassen ist. Wir bemalten Ostereier, schmückten den Osterbaum, Sylvain und Rik spielten mit den Jugendlichen Fussball, und zwar auf afrikanische Art, also barfuss! Als sie mir ihre geschundenen Füsse zeigten, meinten sie: »Deine Jungs sind definitiv härter im Nehmen als wir.«

Und ich lachte und sagte: »Nein, das sind sie nicht. Sie sind es einfach nur gewohnt, ohne Schuhe zu spielen.«

Die Arbeit der Schweizerin Lotti Latrous ist für die Menschen in der Elfenbeinküste ein Segen. Jetzt hat sie ein Buch darüber geschrieben.
Die Arbeit der Schweizerin Lotti Latrous ist für die Menschen in der Elfenbeinküste ein Segen. Jetzt hat sie ein Buch darüber geschrieben.
Bild: zVg

Am Ostersonntag hielten wir eine kleine ökumenische Zeremonie ab. Die Kinder, die Kranken, das Personal, alle unsere Mütter, die Lust hatten, dabei zu sein, und wir sieben versammelten uns vor dem Platz der kleinen Kirche und der Moschee. Einige fanden in den beiden kleinen Räumen Platz, alle anderen – und das waren viele – beteten einfach draussen. Moslems, Katholiken, Reformierte, alle waren wir vereint und hörten unserem Glücksbringer Elias Bamago zu, wie er seine Trommel schlug. Und dann sangen wir alle gemeinsam, und ich garantiere Ihnen, dass ich niemals zuvor eine schönere Kirchenmusik gehört habe. »You Raise Me Up«, »Du ermutigst mich«. Wenn Sie das Lied nicht kennen, suchen Sie es im Internet und lassen Sie sich die Gänsehaut über den Körper laufen. Kleiner Tipp: Die Coverversion von Josh Groban ist für mich die berührendste.

Sarah legte während des Singens ihren Kopf an meine Schulter und liess ihren glücklichen Tränen freien Lauf, und als ich zu Sonia hinüberschaute, sah ich, dass auch sie sich Tränen aus den Augen wischte. Und wissen Sie was? Ich verspürte ein so ergreifendes Gefühl der Dankbarkeit für all das, was ich grad erlebte, dass ich zu weinen vergass, ich fühlte mich ganz einfach völlig erfüllt.

Leserangebot «Was war. Was ist. Was zählt.»

Die Leserinnen und Leser von «Bluewin» können das Buch «Was war. Was ist. Was zählt.» unter dem Codewort bw19ww zum Spezialpreis von Fr. 31.90 statt 36.90 (inklusiv Porto und Verpackung) bestellen. Entweder direkt über die Homepage: www.woerterseh.ch, per E-Mail: leserangebot@woerterseh.ch oder telefonisch unter: 044 368 33 68. Achtung: Bitte Codewort nicht vergessen!

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