Eine Surrogat-Partnerin erzählt«Es ist eine therapeutisch angeordnete Liebesschule»
Von Bruno Bötschi
18.5.2021
Franka hilft Männern und Frauen, ihre Sexualität anders und neu zu erleben. Ein Gespräch über therapeutische Intimität, Orgasmus-Druck und dankbare Abschiedsworte.
Es haben sich einige Männer bei mir gemeldet, die sich von meiner Arbeit sehr angesprochen gefühlt haben. Fast alle haben das Interview und mein Angebot als Hoffnungsschimmer wahrgenommen: ‹Ich habe mich mit meiner Situation abgefunden, aber dann habe ich dieses Interview gelesen und realisiert, dass es doch noch Wege gibt›, hat ein Mann geschrieben. Andere haben es ähnlich formuliert.
Negative Reaktionen gab es keine?
Nein, keine einzige. Das fand ich toll. Dafür spiegelte sich in den E-Mails die ganze Bandbreite an Leben: zum Beispiel ein Arzt kurz vor dem Ruhestand mit Erektionsproblemen und Bindungsschwierigkeiten. Ein Mann im Rollstuhl, der seit seinem Unfall seine Sexualität nicht mehr erfüllend leben kann und nach neuen Wegen gesucht hat, Intimität zu leben. Ein erfolgreicher Geschäftsmann Anfang 50, nennen wir ihn Hannes, der zu mir in die ‹Nachhilfe› kommen wollte, weil seine Frau nicht zufrieden war mit der gemeinsamen Sexualität.
Darf ich fragen, ob die Nachhilfestunden etwas gebracht haben?
Dürfen Sie. Bevor ich Details ausplaudere, muss ich aber noch etwas Grundsätzliches vorausschicken: Unsere zwei Interviews im Sommer 2020 fanden mitten in der Pandemie-Zeit statt. Wie viele andere Menschen haben die damit verbundenen Massnahmen auch mich und meine Arbeit betroffen.
Surrogat-Partner-Therapie
Gemeinsam mit drei weiteren Frauen und vier Männern hat Frau F. im vergangenen Jahr den ersten Schweizer Ausbildungsgang zur Surrogat-Partnerin bei Sexualtherapeutin LuciAnna Braendle abgeschlossen. Pionierarbeit in der Schweiz: In ganz Europa gibt es derzeit nur ganz wenige offiziell ausgebildete Surrogat-Partnerinnen. Mehr Infos zu Frau F. gibt es auf ihrer Website: rundumliebe.ch
Lässt sich auch mit Maske intime Nähe leben?
Nach fast anderthalb Jahren Corona-Pandemie kann ich sagen: Ja, das funktioniert. Auch Nachhilfeschüler Hannes hat sich auf Treffen während der Pandemie eingelassen und mir nach der Therapie eine schöne Karte geschrieben, in der er die Therapie als ‹grossen Erfolg› bezeichnete. Es sei ihm trotz anfänglicher Schwierigkeiten gelungen, sich zu öffnen und er hoffe, dass er nun alles umsetzen könne.
Wie geht es jetzt mit Hannes weiter?
Nun geht es darum, die Erkenntnisse, die er mit mir sammeln konnte, in die Beziehung mit seiner Frau zu transferieren. Ihm ist im Laufe der Therapie bewusst geworden, dass es nicht ‹die› Sexualität gibt. Sexualität ist immer genau das, was zwischen zwei Menschen im Moment ihres Zusammenseins entsteht. Er darf nun also mit seiner Frau eine neue sexuelle Intimität kreieren.
Welche Art von Übungen haben Sie mit Hannes absolviert?
Wir haben gemeinsam den ganzen Ablauf der Surrogat-Partner-Therapie durchlaufen, wie ich ihn in meiner Ausbildung zur Surrogat-Partnerin bei der Sexualtherapeutin LuciAnna Braendle gelernt habe. Das begann mit ganz niederschwelligen Körperwahrnehmungs-Übungen, bei denen wir uns abwechslungsweise die Hand, den Arm oder das Gesicht berührten. Wir haben miteinander über Wünsche, Sehnsüchte und Ängste geredet. Wichtig beim Ganzen waren auch die Sitzungen mit LuciAnna Braendle, die Hannes parallel therapeutisch begleitet hat und gleichzeitig eine Supervision für meine Arbeit war.
Wie ging es weiter?
Von Treffen zu Treffen haben wir mehr Kleider ausgezogen, bis wir uns gegenseitig nackt vor dem Spiegel unsere Körper gezeigt und erklärt haben. Es ging um das Kennenlernen und Erforschen des eigenen, aber auch des anderen Geschlechts, um das Wahrnehmen von Nähe, Intimität und Erregung fernab von Orgasmus-Druck. Das Ziel von Hannes war es, ein variantenreicherer Liebhaber zu werden. Das ist ihm gelungen, weil er sich in unserem Setting von Leistungsdruck befreien und herausfinden konnte, was ihn denn selber tatsächlich glücklich macht.
War die Ehefrau von Hannes auch einmal dabei während einer Therapiestunde?
Bei mir nicht. Sie war aber trotzdem involviert: Sexualtherapeutin LuciAnna Braendle hat eine Einzelsitzung mit ihr abgehalten und ich habe meinen Klienten eingeladen, unsere Übungen zu Hause mit seiner Frau ebenfalls zu machen. Das ist wichtig, damit die Partnerin mit der Entwicklung Schritt halten kann. Ausserdem haben die beiden danach bei LuciAnna Braendle eine Paarsitzung gebucht, um herauszufinden, wie sie als Paar an die Erfahrungen von Hannes anknüpfen können.
Das ist richtig. Hannes ist eigentlich ein untypischer Klient. Wenn sich Menschen melden, die in einer Beziehung sind, versuchen wir sie jeweils dazu zu animieren, das Thema zu zweit in einer Paartherapie anzugehen. In diesem Fall war es aber der ausdrückliche Wunsch von beiden, den Prozess im Rahmen einer SPT anzugehen.
Kam es zwischen Ihnen und Hannes zu Geschlechtsverkehr?
Es kam neben ganz vielem anderen auch zum Geschlechtsverkehr, ja. Wer sich jetzt vorstellt, dass es in der SPT jeweils exzessiv zur Sache geht, liegt aber daneben.
Worum geht es sonst?
Auch bei der Vereinigung geht es ums behutsame Erforschen und Entdecken: Wie fühlt es sich an, wenn wir ganz still ineinander liegen? Wie entwickelt sich die Erektion im Verlaufe des Beisammenseins? Welche Berührungen und Bewegungen fühlen sich besonders intensiv an? Was verändert sich, wenn wir uns dabei in die Augen schauen? Wie kann die Atmung das gemeinsame Erlebnis auf eine nächste Stufe bringen oder auch eine zu schnelle oder hohe Erregung verlangsamen? Gerade wenn Themen wie frühzeitige Ejakulation oder Erektionsschwierigkeiten eine Rolle spielen, können Wahrnehmungsübungen viel dazu beitragen, die Probleme zu überwinden. Geschlechtsverkehr innerhalb der SPT ist also learning by loving – mit viel Kommunikation, trial and error und ohne Druck. Aber eben: Geschlechtsverkehr ist nur ein ganz kleiner Teil – bei einer Surrogat-Partnerschaft geht es um ganz viel mehr. Wie wenn wir uns im richtigen Leben auf jemand Neues einlassen – einfach viel langsamer, achtsamer und bewusster, als das normalerweise passiert.
Das tönt jetzt alles wunderbar. Nur: War die Frau von Hannes nicht eifersüchtig, dass Sie mit ihrem Mann während der SPT gelungenen Sex vollzogen haben, dagegen sie bisher daheim im Bett mit ihm vor allem Probleme wälzen musste?
Ich gehe davon aus, dass die Frau nicht eifersüchtig war. Hannes war ja bei mir, um für seine Beziehung zu profitieren. Die Erfahrungen in der SPT können Blockaden lösen und befreiend wirken, was dann eben der Intimität mit der Partnerin zugutekommt. Ein anderer Klient hat mir einmal herzliche Grüsse und ein grosses Dankeschön von seiner Partnerin ausgerichtet – durch die Treffen mit mir sei bei Ihnen plötzlich ganz vieles möglich geworden.
Könnte man also sagen, SPT ist so etwas wie medizinischer Geschlechtsverkehr?
Das wäre eine schöne Schlagzeile, ich weiss. Diese Definition greift aber viel zu kurz. Sie muss weiter gefasst werden: Die SPT ist therapeutisch angeordnete Beziehungs- und Liebesschule: Unsere Sitzungen haben den Fokus auf die Erfahrung von Nähe, Sinnlichkeit, Sexualität und wie man über all das redet. In diesem sicheren Rahmen können Klientinnen und Klienten Intimität dann neu kennenlernen und neue Erfahrungen sammeln.
Welche Rolle spielt dabei die Begleitung durch eine Gesprächstherapie?
Die ist meiner Meinung nach elementar: Die Klientinnen und Klienten machen einen persönlichen Prozess mit der begleitenden Sexualtherapeutin LuciAnna Braendle durch. Einerseits beleuchten und bearbeiten sie mit ihr Themen oder Stolpersteine, die in den Sitzungen mit mir aktiviert werden. Andererseits gibt sie ihnen Übungen mit, mit denen sie ihren Körper und sich als sexuelles Wesen besser kennenlernen. Sich selber gut zu kennen mit Bedürfnissen, Wünschen und Grenzen und darüber reden zu können, ist ein wichtiger Hintergrund für eine erfüllende Beziehung und Sexualität.
Menschen, die Sex vielleicht im Kopf haben, aber bis anhin nicht oder kaum leben konnten, gehören demnach zu Ihrer Kundschaft.
So ist es. Sogenannte «Absolute Beginner» sind klassische SPT-Klientinnen und -Klienten. Aber auch Menschen, die zwar schon jahrelange Liebeserfahrung haben, dabei aber merken, dass sie irgendwo anstehen. Vielleicht, weil sie sich unter Druck fühlen, immer wieder in die gleichen Muster fallen oder in ihrer Wahrnehmung scheitern in der Sexualität. Durch die neuen Erfahrungen, die sie in unseren Treffen machen, können diese Menschen, egal ob Frauen oder Männer, dann Schwierigkeiten in sexuellen Begegnungen langsam überwinden und frei werden von Scham, Selbstzweifel oder falschen Glaubenssätzen.
Fakt ist jedoch: Es gibt viele Vorurteile gegenüber der Arbeit als Surrogat-Partnerin.
Interessanterweise erlebe ich solche Vorurteile in meinem Alltag kaum. Wenn ich von meiner Arbeit erzähle, sind die Reaktionen oft überrascht bis bewundernd. ‹Das könnte ich nicht›, sagen die einen. ‹Das wäre mir viel zu intim.› Oder: ‹Finde ich toll, dass du so etwas anbietest. Das ist ein wichtiges Angebot.›
Moralische Vorhaltungen bekamen Sie noch nie zu hören?
Nein. Vermutlich liegt das am therapeutischen Setting und der Seriosität, mit der ich meine Arbeit angehe.
Worin unterscheidet sich die SPT von der Sexarbeit?
‹Sexarbeit› an sich ist ja ein ziemlich ausgedehnter Begriff. Wenn man dazu alle Tätigkeiten zählt, in denen sexuelle Handlungen gegen Geld angeboten werden, dann gehören gewisse Elemente innerhalb der SPT bestimmt dazu. Wenn Sie mit Ihrer Frage aber auf die Abgrenzung von der Prostitution abzielen, dann lassen sich klare Unterschiede definieren: Der eindeutigste Unterschied ist die Kundenbindung bei der Prostitution, die es bei der SPT nicht gibt. Wollen also Prostituierte, dass die Klienten immer wieder kommen, ist es bei der SPT ein klares Ziel, die Menschen auf eine Beziehung ausserhalb des Settings vorzubereiten und sie als Klientinnen und Klienten selbstwirksam zu machen. Daher gibt es von Beginn weg das Setting des therapeutischen Dreiecks: Als Surrogatpartnerin arbeite ich immer mit einer Sexualtherapeutin zusammen, die zu Beginn aufgrund des Anliegens der Klientin oder des Klienten mit diesen ein Ziel für die Therapie definiert. Die SPT ist also darauf ausgerichtet, das Ziel der Klientin oder des Klienten zu erreichen, sodass sie erfüllte Liebesbeziehungen ausserhalb des sexualtherapeutischen Rahmens leben können. Innerhalb der Sessions gebe ich als Surrogatpartnerin den Rahmen vor. Es ist kein Wunschkonzert des Klienten – ausser wir machen Übungen, bei denen es genau um das Aussprechen von Wünschen geht.
Die Kritik an der SPT hat möglicherweise auch mit unserer christlichen Erziehung zu tun hat.
Die moralischen Prägungen sind das eine. Dabei geht es aber nicht nur um die Wahrnehmung eines Angebotes wie der SPT, sondern um den Umgang mit Sexualität generell. Wie wir Sexualität leben oder glauben leben zu müssen, ist geprägt von so vielen Faktoren. Familiäre Prägung, Glaubenssätze, Rollenbilder, die wir glauben, erfüllen zu müssen. In meiner Praxis erlebe ich immer wieder, wie all diese Zwänge von den Menschen abfallen. ‹Mit dir kann ich endlich ich sein›, sagte mir einmal ein Klient, ‹und es fühlt sich saumässig gut an, ich zu sein›. Ein anderer Klient konnte einen ganz neuen Bezug zu seinem Penis und dessen Empfindsamkeit aufbauen: ‹Mein Penis wird gerade neu erfunden›, stellte er verblüfft fest. Und wieder andere lernen, eine Vulva zu betrachten, ohne sich dabei übergriffig zu fühlen. In diesen geschützten vier Wänden räumen wir also step by step ganz viele Steine aus dem Weg, die bislang für eine freie Sexualität hinderlich waren.
Kritische Stimmen monieren zudem die Vermischung von Therapie und gelebter Sexualität.
Diese kritischen Stimmen warnen vor einem Abhängigkeitsverhältnis. Ich empfinde das Setting der SPT aber gerade als besonders geeignet, um eine Abhängigkeit zu verhindern: Durch die dritte Person, die verbale Therapeutin, die die Surrogat-Beziehung als Aussenstehende begleitet, ist eine ständige Supervision und Einordnung gewährleistet. Die SPT basiert ausserdem auf klaren Regeln und ethischen Richtlinien, zu denen ich mich verpflichtet habe. Surrogatpartnerinnen und -partner und Klientinnen und Klienten unterzeichnen vor Antritt eine Vereinbarung. Dort wird unter anderem festgehalten, dass ausserhalb der Sitzungen kein Kontakt stattfinden darf – auch nicht virtuell. Ausserdem gilt ab dem Therapieende eine sechsmonatige Kontaktsperre.
Und was, wenn sich jemand verliebt?
Es kann passieren, dass Klientinnen oder Klienten ins Schwärmen kommen, sich allenfalls sogar verlieben. Das ist grundsätzlich nichts Schlechtes. Es zeigt, dass sich jemand nahe und geborgen fühlt und sich öffnet. So können Klientinnen und Klienten sowohl ihre emotionalen als auch sexuellen Wünsche und Grenzen in einer lebendigen Modellbeziehung erforschen, in der auch Verliebtheit vorkommt. Wird das Verliebtsein angesprochen, dann wird es zum Thema – auch mit der verbalen Therapeutin.
Wie gehen Sie vor, wenn Ihnen eine Klientin oder ein Klient optisch nicht entspricht?
Die Frage müsste fairerweise auf beide bezogen sein. Schliesslich kann es auch gut sein, dass ich nicht dem Bild entspreche, das ein Klient sich im Vornherein von der Surrogat-Partnerin macht. Tatsächlich sind die Initialtreffen, bei denen wir uns zum allerersten Mal sehen, immer sehr aufregend: Wer sitzt mir da gegenüber? Wie redet er? Wie bewegt er sich? Meine Erfahrungen zeigen mir, dass man sich von Session zu Session nicht nur sympathischer, sondern auch schöner wird. Die Begegnungen sind so aufgebaut, dass man sich langsam und unweigerlich näher kommt, nicht nur körperlich, sondern auch emotional. Durch den ganz bewussten Fokus auf Berührungen wird das Optische zudem schnell zur Nebensache und Narben, Fältchen, kahle Kopfstellen, Weichheiten und vermeintliche Makel werden zur Sensation. Hinfühlen macht sexy.
Zurück zu Hannes: Wie oft haben Sie den Mann getroffen?
Wir trafen uns etwa 20 Mal, teils zweimal pro Woche, für jeweils drei bis vier Stunden.
Das tönt nach einer ziemlich intensiven Zeit. Sind so viele Therapiestunden normal? Oder brauchte Hannes länger als andere Klienten, bis sich der gewünschte Erfolg einstellte?
Die Therapie-Dauer ist sehr individuell. Manchmal braucht es nur 30 Stunden, manchmal mehr. Wie erwähnt hat mir Hannes in seiner Abschiedskarte geschrieben, dass es bei ihm ein Weilchen gedauert hat, bis er sich öffnen konnte. Anfangs habe ich ihm manchmal einfach 30 Minuten lang nur den Kopf gekrault oder er hat seinen Kopf auf meinen Bauch gelegt und «ein Gefühl von Frieden» gespürt. Das waren wichtige Prozesse, die bei anderen vielleicht weniger nötig sind.
Was kostet eine SPT-Therapie?
Die Treffen mit mir kosten 160 Franken pro Stunde. Dazu kommen die Therapiesitzungen mit der Sexualtherapeutin, die im Wechsel stattfinden. Diese werden separat abgerechnet und richten sich nach Tarifen der Therapeutin.
Sie geben in diesem Interview Ihren vollen Namen nicht preis.
Nein, ich bin im Internet nur unter meinem Vornamen Franka zu finden. Das hat unter anderem damit zu tun, dass ich per Google nicht auffindbar sein möchte. Wir Surrogat-Partnerinnen und -Partner sind bewusst ohne Foto im Internet präsent. Das körperliche Erscheinungsbild ist in der Regel ein unwichtiges Kriterium für eine erfolgreiche SPT. Ziel ist es nicht, das sogenannte Ideal der Klientin oder des Klienten zu erfüllen. Im Zentrum steht, in einer echten Beziehung mit einem echten Menschen Intimität zu lernen.
Kennen Ihre Klientinnen und Klienten Ihren vollen Namen?
Ja. Wenn wir uns kennengelernt haben, gebe ich viel von mir preis.