Behörden ignorieren ThemaGewalt gegen Homosexuelle: Das unterschätzte Problem in der Schweiz
Bastian Baumann
5.6.2018
Zwei Hassdelikte pro Woche. Die «LGBT+ Helpline» hat erste Zahlen zur Gewalt und Diskrimierung an LGBTIQ-Personen veröffentlicht. Die privat finanzierte Stelle übernimmt diese wichtige Aufgabe, weil Kantone und Bund in der Schweiz das Thema ignorieren.
Es war ein Samstag im März vor vier Jahren, als der damalige frisch gewählte neue Geschäftsführer von Pink Cross und Schreiberling dieses Artikels, Bastian Baumann, sich als eines seiner ersten Ziele der Erfassung von Hassvebrechen gegen LGBTIQ (Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender) verschrieb.
Der erste Meilenstein für eine Meldestelle war gesetzt. Zusammen mit vielen Partnern und freiwilligen Helfer*innen entstand so 2016 die «LGBT+ Helpline» Schweiz, die seither online und telefonisch Meldungen zu Diskriminierungen und Gewalt an LGBTIQ erfasst. Im Mai dieses Jahres hat die Meldestelle nun erste Zahlen publiziert.
Jede Woche wurden durchschnittlich zwei Delikte respektive Diskriminierungen gegen LGBTIQ-Menschen gemeldet. Im Zeitraum von November 2016 bis Dezember 2017 wurden ingesamt knapp 100 Meldungen registriert. Nebst der hohen Anzahl an gemeldeten Ehrverletzungen (78) ist das Ausmass der körperlichen Gewalt mit fast einem Drittel der gemeldeten Fälle besonders erschreckend (Mehrfachantworten waren möglich.) Eine Person wurde im genannten Zeitraum sogar mit einer Waffe angegriffen.
«Als ich über einen anderen Weg nach draussen wollte, knallte es plötzlich und dann weiss ich bloss noch, dass ich heftige Schmerzen im Gesicht hatte und die 112 gewählt habe. Durch die Notrufstelle wurde auch die Ambulanz aufgeboten, die mich ins Spital zur Kontrolle fuhr. Kein Bruch und keine schlimmeren Verletzung. Lediglich Prellungen und feine Haarrisse, das wars. Es macht höllisch weh», schreibt ein Opfer über einen Angriff.
Eine andere Meldung erzählt von Beschimpfungen im Alltag, als zwei Lesben einen Fussgängerstreifen überquerten: «Ein junger Autofahrer beschimpfte meine Freundin und mich durch das offene Autofahrer als Scheisslesben.»
Die Meldestelle muss dringend noch stärker in die öffentliche Wahrnehmung der LGBTIQ gelangen. Die meisten Meldungen gingen gemäss Auswertung während der Plakatkampagne ein, danach nahmen die Meldungen ab. Männer scheinen Vorfälle häufiger zu melden als Frauen oder trans Menschen: mit knapp über 60 Meldungen liegt der Anteil der Männer weit höher als bei Frauen (14) oder trans Menschen (17).
Charakteristisch für die Täterschaft ist, dass das Opfer sie meist nicht kennt. Aus den durch die LGBT+Helpline erfassten Daten lässt sich kein Täterprofil ableiten. Es erstaunt nicht, dass es vorwiegend der öffentliche Raum ist, wo LGBTIQ--Menschen Diskrimierung und Gewalt erfahren. Mit 36 gemeldeten Fällen wurde ein Grossteil der 95 gemeldeten Taten auf der Strasse begangen.
Das alltägliche Umfeld als Schauplatz
«Es könnte aber auch sein, dass Fälle im privaten oder beruflichen Kontext weniger gemeldet wurden», schreibt die Meldestelle. Zumindest kommen Studien aus den USA zum Schluss, dass es die unbekannte Täterschaft gibt, jedoch die Vorfälle oft nach einem Streit oder in Situationen, in die bekannte Personen involviert sind, erfolgen. Ob sich diese Studien auf die Schweiz übertragen lassen, müsste durch weitere Untersuchungen geklärt werden.
Doch auch Gewalt, Hass und Diskriminierungen in Schulen (6), Unternehmen (8) oder Institutionen des Gesundheitsbereichs (3) oder der Behörden (3) wurden gemeldet. Das alltägliche Lebensumfeld von LGBTIQ-Menschen ist also immer noch kein sicherer Ort für sie. Verallgemeinert lässt sich sagen, dass solche Angriffe zwar subtiler sind als jene im öffentlichen Raum, aber nicht weniger verletzend.
Die Auswertung der Hotline-Meldungen zeige, dass Hate Crimes in der Schweiz eine Realität sei, so René Schegg, Geschäftsleiter von Pink Cross. «Zwei Fälle pro Woche lassen sich nicht negieren. Wobei die Dunkelziffer sehr hoch sein dürfte – schliesslich handelt es sich bei der Hotline um ein privates Projekt, das nur eine spezifische Personengruppe erreichte.»
Psychische Folgen, erhöhte Suizidgefahr
Was viele LGBTIQ nicht wissen ist, dass auch alltägliche Diskrimierungen wie Beleidigungen und Beschimpfungen ein wichtiger Indikator für die Meldestelle sind und unbedingt gemeldet werden sollten. Die grösste Zahl der Meldungen (78) betrifft denn auch Beleidigungen und Beschimpfungen. Doch auch das Ausmass an (ausgeübter) physischer Gewalt und an Gewaltandrohungen ist mit je 30 Meldungen sehr hoch. Einige Menschen berichten auch von Mobbing (11) oder der Kündigung der Arbeitsstelle (5).
Es zeigt sich, dass die erlebte Gewalt respektive Diskriminierung eine hohe psychische Belastung darstellt. So geben 60 Prozent der Opfer an, dass sie von dem Vorfall psychische Folgen davongetragen haben. Nebst den bereits teilweise grossen Herausforderungen, den eigenen Weg als LGBTIQ in unserer Gesellschaft zu finden, stellen Diskriminierungs- und Gewalt-erfahrungen eine grosse Gefahr für das mentale Wohl dar.
Es überrascht deshalb leider nicht, dass jeder fünfte schwule junge Mann bereits einmal versucht hat, sich das Leben zu nehmen, wie eine Analyse der Universität Zürich und vom Verein Dialogai zeigte. Das erhöhte Suizidrisiko verschwindet nicht mit der Zeit. Gemäss der Studie bleibt es bei Homosexuellen oder Bisexuellen höheren Alters genauso hoch.
Warum der Hass?
Die Helpline zeigt: Hass gegen LGBTIQ--Menschen ist auch in der Schweiz Realität. Ausgrenzung oder Zurückweisung betreffen zwar alle, egal welche sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität ein Mensch hat. Von einem Hassdelikt spricht man aber dann, wenn eine Person eine andere tätlich oder verbal angreift aufgrund deren wirklicher oder vermuteter Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe.
Hass ist ein starkes Gefühl. Die lesbische Publizistin Carolin Emcke drückt in ihrem Buch «Gegen den Hass» die Überzeugung der Hassenden treffend aus: «Manchmal frage ich mich, ob ich sie beneiden sollte. Manchmal frage ich mich, wie sie das können: so zu hassen. Wie sie sich so sicher sein können. Denn das müssen die Hassenden sein: sicher. Sonst würden sie nicht so sprechen, so verletzen, so morden. Sonst könnten sie andere nicht so herabwürdigen, demütigen, angreifen. Sie müssen sich sicher sein. Ohne jeden Zweifel. Am Hass zweifelnd lässt sich nicht hassen. Zweifelnd könnten sie nicht so ausser sich sein. Um zu hassen, braucht es absolute Gewissheit.»
Social Media macht Hass sichtbarer
Hass ist kein neues Phänomen. Aber der Ausdruck von Abneigung ist vielfältiger geworden. Was früher zuhause oder vielleicht noch in der Stammkneipe geäussert wurde, findet mit Social Media mehr als nur ein Publikum: andere Menschen, die den eigenen Hass auf eine bestimmte Gesellschaftsgruppe unterstützen.
In unseren Online-Welten werden Vorurteile und falsche Geschichten häufiger beflügelt, als im Dialog gebrochen oder widerlegt. Wer die schlimmsten Lügen und Geschichten postet, erhält die meisten Likes. Und die Wut verliert ihre Anonymität.
Eine Studie von Forschenden der Universität Zürich kommt zu einer neuen Erkenntnis: Das Team unter der Leitung von Katja Rost vom Soziologischen Institut konnte zeigen, dass nicht anonym auftretende Onlinehasser*innen zunehmend die Regel statt die Ausnahme sind. Die Auswertung von mehr als 500 000 sozialpolitischen Kommentaren aus rund 1600 Onlinepetitionen der deutschen Plattform openpetition.de zwischen 2010 und 2013 ergab, dass die Verfasser von Hasskommentaren, die unter ihrem vollen Namen posten, sogar häufiger sind als anonyme Hasskommentator*innen. Viele Kommentierende empfinden es nicht als nötig, anonym zu bleiben, die meisten fürchten auch keine Strafverfolgung.
Diese müssen sie bei Hasskommentaren und Tätlichkeiten gegen LGBTIQ in der Schweiz auch nicht fürchten. Die Schweiz ist eines der wenigen westlichen Länder, die kein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz kennt. Es gibt keine Gleichstellungsbehörde, die sich für potenzielle Diskriminierungsopfer einsetzt. Bei einem Ranking von «The Migrant Integration Policy Index» landet die Schweiz mit nur 31 von 100 möglichen Punkten sogar auf dem viertletzten Platz von 38 Ländern, gefolgt von der Türkei, Japan und Island.
Immerhin befasst sich das Parlament mittlerweile mit der Erweiterung des Anti-diskruiminierungsartikels um die sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität. Das Geschäft geht aber nur schleppend voran. Bis zu einer allfälligen Erweiterung muss sich die LGBTIQ--Community selber helfen. Denn was nicht erfasst wird und mit Zahlen belegt werden kann, wird von den Behörden und Politiker*innen nicht wahr- und ernstgenommen.
Nur wenige Meldungen erreichen die Polizei
«Erst die Anerkennung struktureller Gewalt als Bestandteil des gesellschaftspolitischen Überbaus ermöglicht einen Präventionsansatz, der nicht nur auf eine individuelle Opferhilfe abzielt, sondern gesellschaftliche Verhältnisse hinterfragt und letztlich verändern will», schreiben Constance Ohms und Klaus Stehling in ihrem Beitrag zu «Gewalt gegen Lesben – Gewalt gegen Schwule: Thesen zu Differenzen und Gemeinsamkeiten».
Ohms und Stehling sind beide Berater*in in Sachen LGBTIQ für das hessische Sozialministerium. Sie bekämpfen den Mythos, dass eine Gewalterfahrung, die ein Mitglied einer sozialen Minderheit trifft, per se eine individuelle, schicksalhafte Begegnung sei. Denn jeder Akt von Diskrimierung und Gewalt «treffe nicht nur eine Einzelperson, sondern immer auch die Minderheit, zu der er/sie dazugehört.»
Als Beispiel dazu etwa Black Lives Matter (BLM), die internationale Bewegung, die innerhalb der afroamerikanischen Gemeinschaft in den USA entstanden ist und sich gegen Gewalt gegen Schwarze einsetzt. BLM organisiert Proteste gegen die Tötung Schwarzer durch Gesetzeshüter*innen und zu Problemen wie Racial Profiling, Polizeigewalt und Rassenungleichheit.
Gleichzeitig ist es von hoher Bedeutung für eine Gesellschaft zu wissen, wo der Gesetzgeber Grenzen setzt. Für LGBTIQ ist es ein ermächtigender Gedanke, wenn der Staat sich dazu bereit erklärt, sie vor Diskriminierung und Gewalt zu schützen. Fehlt dieser Schutz, wie heute in der Schweiz, werden gefährliche Signale an die Täter*innen ausgesendet, dass Diskriminierung und Gewalt an LGBTIQ okay sei und nicht strafrechtlich verfolgt wird. Opfer fühlen sich dadurch zusätzlich alleine und im Stich gelassen.
Ein weiterer Punkt nebst der Anerkennung struktureller Gewalt oder von Diskriminierung ist das Vertrauen in die Behörden. Hier zeigt die Auswertung der LGBT+Helpline viel Aufholbedarf. Von den erfassten 95 Vorfällen wurden nur 18 der Polizei gemeldet. Das erstaunt insofern, als es sich doch um zum Teil sehr schwere Verletzungen und Angriffe handelt.
Gründe hierfür wurden in einem Fragebogen erfasst, darunter etwa fehlendes Vertrauen in die Polizei oder Unwissen darüber, dass die Tat überhaupt strafrechtlich relevant ist. Vielfach denken die Opfer, dass ihnen Beweise für die Tat fehlen. «Wir waren erstmal froh, körperlich unbeschädigt in Sicherheit zu sein. Danach haben wir bemerkt, dass wir überhaupt keine handfesten Beweise haben, die uns bei den Behörden irgendwie weiterhelfen könnten», steht in einer Meldung.
Wurde der Vorfall gemeldet, so reagierte die Polizei in mehr als der Hälfte der Fälle sachlich (11 von 18 gemeldeten Fällen). Als unterstützend wurde die Polizei in neun Fällen wahrgenommen. Bei drei Vorfällen wurde mit Ablehnung oder Herablassung reagiert und in einem Fall nahm das Opfer die Reaktion der Polizei als Spott oder Beleidigung wahr. Ein grosser Teil der Anworten lassen darauf schliessen, so der Report, «dass die unklare beziehungsweise ungünstige Rechtslage Menschen nicht zur Polizei gehen lässt. Viele glauben, dass die erlebte Gewalt strafrechtlich nicht relevant sei. Hierzu sowie bezüglich weiterer Hindernisse im Zugang zu Rechtsmitteln und Opferunterstützung zeigen die Daten eine klare Erkenntnislücke in der Schweiz.»
Johanna Bundi Ryser, die Präsidentin des Verbands Schweizerischer Polizeibeamter VSPB, kennt die konkreten Fälle nicht, wie sie zu Medien sagte. Sie hält jedoch fest: «Grundsätzlich behandelt die Polizei alle Personengruppen gleich, unabhängig von ihrer politischen, ethnischen oder geschlechtsspezifischen Orientierung.» Dass die Polizei für derartige Themen sensibilisiert sei, zeige etwa die Existenz von Pink Cops, einem Verein homosexueller Polizistinnen und Polizisten.
Forderung nach politischem Fortschritt
Sollte die Erweiterung des Antidiskriminerungsartikels in naher Zukunft Realität werden, wird dies nicht die mangelhafte Erfassung von Hate Crimes aufgrund der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidenität beheben. Opfer hätten dann aber zumindest die Möglichkeit, Hilfe zu holen. Für die Durchsetzung der Strafnorm wären dann die Justizbehörden zuständig. Im bestehenden Strafrechtsartikel handelt es sich um ein Offizialdelikt, das heisst, jede Person kann einen Vorfall, den sie als Verstoss gegen die Bestimmung empfindet, bei der nächsten Polizeistelle oder bei einem Untersuchungsrichter melden. Die Behörden sind danach verpflichtet, den Sachverhalt zu prüfen und, falls er als genügend erhärtet angesehen wird, eine Strafverfolgung einzuleiten.
Damit das wahre Ausmass der Gewalt an LGBTIQ öffentlich wird, müssen die Polizeistellen ihren Katalog um die sexuelle Orientierung und der Geschlechts-identität erweitern. Denn die Erfassung ist kantonal geregelt, nur die Konferenz der kantonalen Polizeidirektoren*innen könnte hier Abhilfe schaffen. Eine entsprechende Motion von BDP-Nationalrätin Rosmarie Quadranti ist derzeit im Parlament hängig. Ihre Partei griff das Thema bereits vor knapp drei Jahren auf.
In einer ersten Antwort kam der Bundesrat zunächst zum Schluss, Hate Crimes gegen LGBTIQ-Menschen zu erfassen und die Daten zu veröffentlichen. Später machte der Bund jedoch einen Rückzieher. Als Grund nannte Stephan Gysi vom Bundesamt für Statistik damals gegenüber Medien die negativen Rückmeldungen aus den Kantonen. «Hauptargumente waren ein ungünstiges Aufwand-Ertrag-Verhältnis und die Schwierigkeit, eine genügende Datenqualität sicherzustellen.» Ein zynischer Gedanke, dass der Schutz vor Gewalt gemäss Bundesamt für Statistik in einem Aufwand-Ertrags-Verhältnis stehen muss.
Die Meldestelle fordert zum einen die konsequente und proaktive Erfassung homo-, bi- oder transphob motivierter Straftaten durch die Polizei und die Analyse dieser Daten. Des Weiteren sollen vom Bund koordinierte und finanzierte Präventionsmassnahmen solche Straftaten verhindern. Denn es kann nicht angehen, dass die Schweizer LGBTIQ-Community mittels persönlichen Geld und Einsatzes für ihre eigene Sicherheit und Gesundheit sorgen muss.
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