Ver­wand­ten­be­such Kann ich meine Grossmutter noch mit gutem Gewissen besuchen?

Von Julia Käser

10.3.2020

Für Demenzkranke kann ein Kontaktunterbruch zur Familie laut einem Experten im schlimmsten Fall tödlich enden. 
Für Demenzkranke kann ein Kontaktunterbruch zur Familie laut einem Experten im schlimmsten Fall tödlich enden. 
Bild: Keystone

Die Grossmutter unserer Redaktorin lebt seit Kurzem im Altersheim. Der Kontakt zur Familie ist äusserst wichtig für sie und ihre Gesundheit – doch das BAG rät von Besuchen ab. 

Die Türe öffnet sich automatisch. Auf dem Tisch gleich dahinter liegt eine Kontaktliste. Rasch trage ich meinen Namen und meine Telefonnummer ein. Ich erkenne, dass ich längst nicht die Einzige bin, die den Weg hierher gefunden hat. Die latente Anspannung in mir weicht einem dezenten Gefühl der Erleichterung. Ich desinfiziere mir gründlich die Hände.

Für Menschen mit Demenz kann ein Kontaktunterbruch zur Familie im schlimmsten Falle tödlich enden. Dieser Satz hat sich mir eingebrannt. Gesagt hat ihn Albert Wettstein, der ehemalige Zürcher Stadtarzt, gegenüber SRF.

Grundsätzlich sei es richtig, Besuche in Alters- und Pflegeheimen einzuschränken, so Wettstein. Doch jede Massnahme im Kampf gegen das Coronavirus müsse auch verhältnismässig sein.

Meine Grossmutter lebt erst seit wenigen Wochen im Altersheim. Zuvor hatte sie ihre Familie täglich in allernächster Nähe, wurde von ihren Töchtern gepflegt. 

Den kürzlichen Verlust von meinem Grossvater hat sie kaum verkraftet. In wachen Stunden verspürt sie eine grosse Sehnsucht. Heimweh – auch nach uns. Telefonieren kann sie nicht mehr. Es ist deshalb unglaublich wichtig, dass wir sie oft besuchen. 

Sterblichkeitsrate bei 14 Prozent

Sie liegt auf ihrem Bett und erkennt mich rasch. Ich möchte wissen, wie es ihr geht in ihrem bescheidenen Zimmer. «Sehr gut. Wie immer, wenn du da bist.» Jedes Mal dieselbe Antwort. Langsam sitzt sie auf, und ich verzichte darauf, ihr die Hand zu reichen.

Dann möchte ich von ihr wissen, ob sie denn noch spazieren gehen dürfe: «Weisst du, wegen dieser Grippe, mit der du dich nicht anstecken solltest.» Meine Grossmutter schaut mich ahnungslos an. Was sie in der Zeitung liest, vergisst sie zwei Minuten später. Was man ihr erzählt, versteht sie häufig gar nicht erst.



Ich bin unsicher. Es geht schliesslich nicht nur um meine Grossmutter, sondern um alle Seniorinnen und Senioren hier. Über 80-Jährige gefährdet das Coronavirus besonders. Die Sterblichkeitsrate liegt bei über 14 Prozent. Viele Alters- und Pflegeheime haben deshalb Schutzmassnahmen ergriffen. Wenige haben sogar ein Besuchsverbot verhängt.

Wir erfahren, dass es kein Problem ist, eine Runde im Garten zu drehen. Ich ziehe meiner Grossmutter also die Schuhe an und helfe ihr, in den dunkelblauen Mantel zu schlüpfen – vorsichtig, um ihr nicht allzu nahezukommen. In ihrem Tempo machen wir uns auf den Weg. Grossmutter zählt unterwegs alle Blümchen. Draussen blüht auch sie auf. 

Menschlicher Kontakt als Menschenrecht

Danach trinken wir einen Kaffee. Sie hat mich noch nicht gehen lassen wollen. Ich sitze weiter weg von ihr als üblich. Der Gedanke ans Virus ist omnipräsent, aber in diesem Augenblick nicht das Allerwichtigste. Ohne kleinste Berührung verabschiede ich mich. «Auf Wiedersehen», sagt meine Grossmutter. «Bis ganz bald.»

Wann ich wiederkomme, weiss ich nicht. Ich bin froh darüber, dass meine Grossmutter sich derart über mein Kommen gefreut hat. Froh, sie so lebendig zu sehen. Ein leichtes Unwohlsein hinterlässt der Besuch bei mir trotzdem.



«Es geht um Solidarität», hat Bundesrat Alain Berset (SP) die neuen Massnahmen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) begründet. Von Besuchen in Pflegeinstitutionen wird tendenziell abgeraten – verboten sind sie nicht. Menschlicher Kontakt ist ein Menschenrecht. Gesundheit auch.

Wie also soll ich mich in Zukunft verhalten, wenn das Virus näher an mich ran kommt? Werden wir Grossmutter in der nächsten Zeit besuchen können – mit gutem Gewissen, mit reinem Gewissen? Wie würde es ihr so ganz ohne uns ergehen? Schafft sie das?

Es bleibt wohl nichts anders übrig, als sich laufend mit der Heimleitung auszutauschen. Nachfragen, in welchem Rahmen Besuche gestattet oder gar willkommen sind, ohne ein unnötiges Risiko darzustellen, ja auch für die anderen Heimbewohnerinnen und Heimbewohner.

Richtig gibt es in diesem Fall sowieso nicht mehr: Das Virus kann meine Grossmutter krank machen – ebenso die Einsamkeit. 

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