Therapeutin über Harrys Los «Darf nichts nach aussen, kann die Familie zum Ort des Grauens werden»

Von Bruno Bötschi

15.1.2023

«Familien- und Paarkonflikte gehören zum Leben und zur Liebe dazu»: Familientherapeutin Katrin Lukas über die britische Königsfamilie.
«Familien- und Paarkonflikte gehören zum Leben und zur Liebe dazu»: Familientherapeutin Katrin Lukas über die britische Königsfamilie.
Bild: imago images/Parsons Media

Harry und Meghan haben sich vom Palast distanziert. In seiner Biografie «Spare» gibt der Prinz nun intime Details aus seiner Vergangenheit preis. Warum tut er das? Familientherapeutin Katrin Lukas ordnet ein.

Von Bruno Bötschi

Frau Lukas, Prinz Harry steht mit seiner Familie auf Kriegsfuss, kritisiert sie immer und immer wieder in der Öffentlichkeit. Begonnen hat es im Frühling 2021 mit dem Interview von ihm und seiner Frau Meghan bei Oprah Winfrey. Vor Kurzem erschien die Netflix-Serie «Harry & Meghan». Seit dieser Woche liegt nun Harrys Biografie «Spare» in den Buchhandlungen. Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie vor zwei Jahren zum ersten Mal hörten, dass Harry über die Probleme mit seiner Familie öffentlich redet?

Ehrlich gesagt hatte ich mir keine Gedanken dazu gemacht, da mich die Auseinandersetzungen innerhalb der englischen Königsfamilie nicht besonders interessierten. Jetzt, wo Sie mich für dieses Interview angefragt haben, fällt mir als Paar- und Familientherapeutin jedoch schon einiges dazu ein.

So grundsätzlich: Was halten Sie davon, wenn Familienstreitigkeiten in der Öffentlichkeit ausgetragen werden?

Es sind natürlich besondere Rahmenbedingungen, wenn Familienkonflikte, die sich sozusagen in der kleinsten Einheit der Gesellschaft abspielen, dann in dem konträr liegenden Rahmen angesprochen oder ausgetragen werden. Familie ist ein sehr intimes System in unserer Gesellschaft und die Öffentlichkeit eben der andere Pol. Es scheint ein Weg für Meghan und Harry zu sein. Das Paar hat diesen Weg gewählt, um über ihre Geschichte zu sprechen.

Was ist ein Familiensystem? Können Sie das noch genauer erklären?

Zur Person: Katrin Lukas
Bild: zVg

Katrin Lukas, 43, Paar-, Sexual- und Familientherapeutin. Bei der Paarberatung & Mediation im Kanton Zürich, dem öffentlichen Kompetenzzentrum für Paarbeziehungen, bietet Lukas an drei Tagen pro Woche Paar- und Einzelberatungen und Mediationen an.

Das Familiensystem ist ein recht geschlossenes System in unserer Gesellschaft. Es entstehen Beziehungen, die sehr eng sind und die Aussengrenzen des Systems sind je nach Familie durchlässiger oder rigide. Wenn Grenzen rigide sind und nichts, was innen passiert, nach aussen darf, kann das die Familie auch zum Ort des Machtmissbrauchs – zum Ort des Grauens werden lassen.

Für jedes System ist es lebensnotwendig, zu wachsen und sich zu entwickeln. Dafür braucht es Offenheit, andere Einflüsse, Kontakte und Vernetzung.

Was denken Sie, wieso spricht Prinz Harry öffentlich über seine Verletzungen und familiären Auseinandersetzungen?

Das kann ganz verschiedene Gründe haben. Ich frage mich, was für Spannungen da vorhanden sein müssen, dass ein Mensch sich entscheidet, dies zu tun? Möglicherweise verschafft dies dem Prinzen persönliche Beruhigung.

Harry schreibt in seinem Buch «Spare» Geschichten über seinen Kokain-Konsum, über Sex und sogar, wie viele Menschen er im Krieg in Afghanistan getötet hat: Woher, glauben Sie, kommt diese Offenheit?

Da scheint ein grosses Bedürfnis vorhanden zu sein, diese Sachen offenzulegen. Was die Beweggründe von Harry dafür sind, ist für mich nur schwierig nachzuvollziehen. Aber über die Wirkung wird der Prinz sich wohl Gedanken gemacht haben. Er wird ein Ziel haben, was er mit seinem Buch erreichen will. Ohne eine Absicht dahinter hat er dieses nicht geschrieben. Die Wirkung sich zu offenbaren ist ja häufig, dass es positiv aufgenommen wird.

Warum ist dem so?

Da man sich als Person so greifbarer macht, sich auch mit den verletzten und dunklen Seiten zeigt. Das heisst: Harry könnte sich damit Zuspruch und Bestätigung holen.

Ein Augenmerk legt Prinz Harry zudem auf die Beziehung zwischen ihm und seinem Bruder William. Harry bezeichnet William als «geliebten Bruder» und gleichzeitig «seinen schlimmsten Gegenspieler».

Da spricht Harry etwas an, was viele Menschen kennen. Geschwister-Beziehungen leben und wachsen mit Konflikten. Die Reibungen zwischen Geschwistern fordern und fördern. Neid und Eifersucht können auch positiv genutzt werden, um sich persönlich zu entwickeln. Also die Person zu werden, die man sein will. Wenn viel Geld und Ruhm im Spiel sind, kann das sehr ernsthafte und gewaltvolle Facetten annehmen. Die Frage ist auch, mit welchen Werten ein Kind aufgewachsen sind, was in der Familie gelebt wurde.

Die sogenannte frühkindliche Entbehrung ist immer wieder Thema, wenn es um Familienstreitigkeiten geht.

Übernimmt ein erwachsener Mensch die Verantwortung für das eigene Wohlergehen und Leben, dann schreibt die Person nicht den Eltern die Schuld am Leid zu. So ist man nicht Opfer, sondern kann gestalten.

«Harry kann seinem Bruder und seinem Vater verzeihen und sich mit der Situation versöhnen, da braucht er die beiden nicht zwingend dazu»: Katrin Lukas über den Zwist zwischen den Brüdern William und Harry.
«Harry kann seinem Bruder und seinem Vater verzeihen und sich mit der Situation versöhnen, da braucht er die beiden nicht zwingend dazu»: Katrin Lukas über den Zwist zwischen den Brüdern William und Harry.
Bild: Martin Meissner/AP/dpa

Dennoch betont Harry in Interviews immer wieder, dass sein grösster Wunsch eine Versöhnung mit seinem Bruder William und mit seinem Vater Charles sei. Ist das nach diesen Enthüllungen überhaupt noch möglich?

Wenn Versöhnung das Ziel ist, dann müssen konkrete Schritte eingeleitet werden. Erst mal muss auch mit der Ablehnung oder dem vielleicht Nicht-versöhnen-wollen von Bruder und Vater umgegangen werden, ohne sofort scharf zu schiessen. Es wird also eine Herausforderung für Harry werden, beharrlich dranzubleiben und sein Ziel zu verfolgen. Versöhnen ist auch ohne Vater und Bruder möglich.

Wie geht das?

Harry kann seinem Bruder und seinem Vater verzeihen und sich mit der Situation versöhnen, da braucht er die beiden nicht zwingend dazu.

Ist Harrys Biografie eine Art der Therapie beziehungsweise der Aufarbeitung des frühen Todes seiner Mutter Lady Diana?

Das Schreiben ist für viele Menschen eine Reflexion, ein Rückblick, eine Verarbeitung des bisher Gelebten. Die alte Geschichte kann neu erzählt werden. Das ist ein heilender Prozess, denn ein Stück weit ist es dem Menschen dann möglich, die Geschichte in einem wertschätzenden Licht und sich selbst als den Menschen zu sehen, der man sein will. So kann Akzeptanz sich gegenüber und Frieden geschlossen werden mit der Situation und mit sich selbst.

Warum, denken Sie, ist Harry mit seinen Vorwürfen jetzt an die Öffentlichkeit gegangen, obwohl der Prinz seit dem Unfalltod seiner Mutter den Medien durchaus kritisch gegenübersteht?

Für ihn wird das wohl überlegt gewesen sein. Ich weiss es nicht. In der Paartherapie frage ich die Leute häufig: Warum sind Sie gerade jetzt zu mir gekommen? Mich interessiert, was sich jetzt gerade für das Paar so schlimm anfühlt, oder was sich verändert hat, dass sie sich entschieden haben eine Paarberatung aufzusuchen.

Welche Rolle spielt Meghan, die Frau von Harry, bei der öffentlichen Abrechnung mit seiner Familie?

Sehr nahe Menschen haben immer einen Einfluss auf unser Tun, denn wir sind keine unabhängigen Wesen. Jedoch haben wir die Fähigkeit, uns dieser Verbundenheit und Abhängigkeit bewusst zu sein. Wir können uns klarmachen, was möchte ich als Person und wobei darf mich meine Partner*in auch unterstützen. So wird auch Harry für sich selbst entschieden haben diese Schritte zu gehen – wohl aber kaum, ohne sich mit Meghan auseinandergesetzt zu haben.

Prinz Harry ist nicht der erste prominente Zeitgenosse, der sein Leben in einem Buch verarbeitet. Warum machen das bekannte Menschen?

Auch unbekannte Menschen schreiben ihre Memorien. Das kann eine Möglichkeit sein, das Leben nochmals neu zu erzählen. Die einen machen es für sich, die anderen öffentlich, wo dann auch noch etwas Geld fliesst.

Manche finden, Harrys Offenheit schade ihm genauso wie seiner Familie. Andere meinen, es sei das gute Recht des Prinzen, seine Version der Geschichte zu erzählen. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Eine Meinung habe ich da nicht, denn es ist nicht mein Leben und nicht meine Entscheidung. Die Öffentlichkeit hat jedoch den Vorteil: Die Menschen erleben, dass Familienkonflikte überall stattfinden.

Was hat diese Offenheit für einen Einfluss auf die Familie?

Die Offenheit hat nicht gesetzmässig dies und das zur Folge. Vielmehr bestimmen die Beteiligten und Betroffenen, was sie für einen Einfluss hat und wie sie damit umgehen.

«Sehr nahe Menschen haben immer einen Einfluss auf unser Tun, denn wir sind keine unabhängigen Wesen»: Katrin Lukas über den Einfluss von Meghan auf Harry.
«Sehr nahe Menschen haben immer einen Einfluss auf unser Tun, denn wir sind keine unabhängigen Wesen»: Katrin Lukas über den Einfluss von Meghan auf Harry.
Bild: Dan Himbrechts/AAP/dpa

Es heisst doch immer: Familie hat man, Freunde sucht man sich aus. Warum ist es trotzdem so schwer, sich von der eigenen Familie zu lösen?

Das sind eben ganz besondere Bindungserfahrungen. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist auch eine vertikale Beziehung. Eltern übernehmen die Verantwortung und regeln das Leben der Kinder bis zu einem gewissen Alter. Die Beziehung ist schon einmal aus dieser Perspektive eine andere als die mit Freund*innen. Sie sagen «lösen», aber ein vollständiges Lösen geht wohl nicht. Aber ja, wir müssen uns lösen, um das eigene Leben zu leben und unsere Eltern sollten uns dabei unterstützen. Aber Lösen ist auch noch lange nach dem Auszug aus dem Elternhaus ein Thema.

Geht es noch etwas konkreter?

Ein wichtiger Aspekt meiner Meinung nach ist, wie wir lernen, unsere eigene Position einzunehmen und uns selbst zu behaupten. Haben wir es gelernt uns so zu zeigen, wie wir sind, durften wir sein, so wie wir sind oder mussten wir was verstecken, weil es nicht so gern gesehen war, die Eltern traurig machte oder gar bestraft wurde. Gab es eine Familienkultur, in der auch schwierige Dinge angesprochen wurden. Wie ist die Familie mit Kritik umgegangen, war Kritik möglich? War man eher darauf bedacht, es allen rechtzumachen, sich anzupassen und zu schweigen? All die Aspekte haben einen Einfluss auf den Ablösungsprozess und auf die lebenslange Beziehung zwischen den erwachsenen Kindern und ihren Eltern.

Die Kluft zwischen Harry und seiner Familie scheint aktuell unüberwindbar. Welche konkreten Tipps hätten Sie für die Familie Windsor, damit sie ihren Streitigkeiten beilegen und sich irgendwann sogar wieder annähern können?

Es gibt verschiedene Angebote und Methoden, Familienkonflikte professionell zu bearbeiten. Zum Beispiel in einer Familientherapie oder einer Mediation. Hierfür müssen alle Beteiligten bereit sein, an einer Lösung zu arbeiten. In einer Familienmediation geht es darum, die verschiedenen Sichtweisen und Bedürfnisse auf den Tisch zu legen. Die Beteiligten haben so die Möglichkeit, ihre Sicht zu erzählen, denn im Konflikt findet das Erzählen und das Zuhören nicht mehr statt.

Dies ist aber der Ausgangspunkt für den Prozess der Konfliktbearbeitung. Das Ziel einer Mediation ist es, eine Neugestaltung der familiären Beziehung zu entwickeln. Die Bearbeitung kann eine Weile dauern. Langsamkeit, Achtsamkeit und Zeit sind wichtige Player, wenn es um Verständnis, Akzeptanz und Versöhnung geht.

Glauben Sie, dass Harry und seine Familie sich je wieder versöhnen werden?

Wenn sie es wollen und das Interesse haben, dann gibt es Wege – wie die gerade beschriebene Mediation. Das wissen die im Königshaus auch. Das Wertvolle am Ganzen ist, Themen rund um Paar- und Familienkonflikte werden öffentlich verhandelt. Die Diskussion in der Öffentlichkeit darüber ist das Interessante dabei. Dies kann dazu beitragen, die Themen aus der Tabuzone zu holen. Familien- und Paarkonflikte gehören zum Leben und zur Liebe dazu. Wir lernen ja erst in den Beziehungen – kein Mensch kommt mit Beziehungsfähigkeit auf die Welt. Wenn wir also wollen und uns um unsere Konflikte und Beziehungsprobleme kümmern, können wir in Zukunft bessere, genussvollere und tragfähigere Beziehungen führen.


«Spare»-Biografie im Check: «Es ist ein trotziger Ausbruch aus der Unterdrückung»

«Spare»-Biografie im Check: «Es ist ein trotziger Ausbruch aus der Unterdrückung»

blue News-Redaktor Fabian Tschamper hat die Biografie von Prinz Harry schon gelesen. Viele Skandale wurden von der Presse schon im Vorfeld verraten. Lohnt es sich dennoch, das Buch zu kaufen?

10.01.2023