Kolumne«Chum abe, das isch z'höch!» – Wenn Eltern es zu gut meinen
Michelle de Oliveira
4.8.2024
Die Kolumnistin ist eine vorsichtige Mutter. Zu vorsichtig, wie sie findet. Aber manchmal hilft ein Trick für mehr Gelassenheit: Die Augen verschliessen und darauf vertrauen, dass es schon gut kommt.
Michelle de Oliveira
04.08.2024, 08:02
13.08.2024, 09:35
Bruno Bötschi
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
blue News Kolumnistin Michelle de Oliveira sagt von sich selber, sie sei eine vorsichtige Mutter, zu vorsichtig sogar.
Trotzdem fragt de Oliveira sich hin und wieder: Gehört es nicht dazu, dass sich ihre beiden Kinder hin und wieder stossen, aufschürfen und auch mal so richtig wehtun?
Es sei zweifellos eine herausfordernde Gratwanderung zwischen «Das kann man den Kindern zutrauen» und «Davor muss man sie beschützen», so die Kolumnistin.
Neulich, als meine Tochter vom Kindergarten kam, erzählte sie mir mit weit aufgerissenen Augen, dass ein Junge sich verletzt hatte und sogar von der Ambulanz abgeholt werden musste.
Er sei von einem der Baumstämme gefallen und habe am Kopf geblutet. Da wusste ich schon, was jetzt folgen würde.
Tatsächlich vibrierte mein Handy kurz darauf fast im Minutentakt, eine Nachricht nach der anderen füllte den Kindergarten-Chat auf Whatsapp.
Die Baumstämme und der Sandkasten sind die Höhepunkte
Genesungswünsche für den verletzten Jungen, Updates der Mutter – die Wunde über dem Auge musste genäht werden, aber es ging dem Jungen gut – und vor allem andere Eltern, die sich über die Baumstämme aufregten.
Zur Person: Michelle de Oliveira
Bild: Privat
Michelle de Oliveira ist Journalistin, Yogini, Mutter und immer auf der Suche nach Balance – nicht nur auf der Yogamatte. Ausserdem hat sie ein Faible für alles Spirituelle. In ihrer Kolumne berichtet sie über ihre Erfahrungen mit dem Unfassbaren, aber auch aus ihrem ganz realen Leben mit all seinen Freuden und Herausforderungen. Sie lebt mit ihrer Familie in Portugal.
Über Baumstammstücke, die als kleines Kletterelement im Garten des Kindergartens standen. Dazu muss man wissen:
Den Kindergarten gibt es noch nicht so lange, der Aussenbereich ist noch immer eher – sagen wir einmal – karg bestückt.
Die Baumstämme sind neben dem Sandkasten also quasi ein Höhepunkt.
Und natürlich kann von so einem Baumstamm auch mal ein Kind runterfallen und sich die Haut aufschürfen.
«Heb di guet!»
«Mein Sohn hat ständig blaue Flecken, die müssen von diesen Baumstämmen kommen», schrieb eine andere Mutter. Ich musste schmunzeln.
Erst kürzlich hatte ich die Beine meiner Tochter betrachtet, voller Kratzer, Schürfungen und blauer Flecken und habe gedacht: Herrlich, richtige Sommer-Kinder-Beine.
Dabei bin ich selbst eher eine vorsichtige Mutter. Besorgter, als ich es eigentlich gern wäre. Bin ich mit anderen Eltern und deren Kindern auf dem Spielplatz, gehöre ich zu denen, die am häufigsten rufen:
«Pass uf! Achtung, nöd so schnell! Heb di guet! Neinei, chum abe, das isch z'höch! Achtung! Ufpasse! Uuuuufpasse!»
Die dümmsten Unfälle passieren meist unerwartet
Dabei weiss ich aus eigener Erfahrung, dass die dümmsten Unfälle passieren, wenn man sie nicht erwartet. Vor einigen Jahren erhielt ich einen Anruf aus der Kita. Mein Sohn sei gefallen, er blute sehr stark, ich müsse sofort kommen.
Tatsächlich hatte er ein beeindruckendes Loch im Kopf, bei dessen Anblick mir fast übel wurde. Wie es passiert ist, wusste niemand. Es war in der Kita passiert, kurz vor dem Mittagessen, die Kinder seien dabei gewesen, sich die Hände zu waschen.
Also kein Moment, in dem ich als Mutter den Atem angehalten oder «Vorsichtig!» gerufen hätte. Keine gefährliche Situation, vor der man hätte warnen müssen. Es ist einfach passiert. So wie viele kleinere und grössere Unfälle eben einfach passieren.
Gehört es nicht dazu, dass sich Kinder auch mal wehtun?
Natürlich finde ich auch, dass man offensichtliche Gefahrenquellen beseitigen muss, egal, ob für Kinder oder für Erwachsene. Aber gehört es nicht dazu, dass sich Kinder stossen, aufschürfen und auch mal so richtig wehtun? Ohne gefährlichen Leichtsinn eigene Erfahrungen machen dürfen?
Muss man nicht erst mal runtergefallen sein, um wirklich zu verstehen, warum die Erwachsenen ständig sagen: Pass auf, dass du nicht fällst.
Es ist zweifellos eine herausfordernde Gratwanderung zwischen «Das kann man den Kindern zutrauen» und «Davor muss man sie beschützen». Und ich tendiere noch immer mehr zum letzteren.
Aber ich habe einen Trick für mehr Gelassenheit: Manchmal einfach wegschauen, die Augen verschliessen und darauf vertrauen, dass es schon gut kommt.
Natürlich nicht in brenzligen Situation, da rufe ich noch immer so laut, wie ich kann: «Uufpasse!»
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