BuchtippArno Camenisch und die Schatten der Vergangenheit
Von Sulamith Ehrensperger
25.2.2021
«Der Schatten über dem Dorf» heisst das neue Buch von Arno Camenisch. Es ist sein bisher persönlichstes Werk: Die Geschichte über eine totgeschwiegene Tragödie aus dem Ort seiner Kindheit.
Das Dorf lag im Winter während Monaten im Schatten. Es war in Schockstarre. Irgendwann würde der Frühling wiederkommen, sagte sein Grossvater immer. Diesem Schatten über dem Dorf widmet Arno Camenisch nun sein zwölftes Buch. Es sind auch die Schatten aus seiner Kindheit.
«Der Schatten über dem Dorf» erzählt von einer Tragödie, die sich oberhalb von Tavanasa zugetragen hat, dem Dorf, wo Camenisch aufgewachsen ist. Dass das Herz des Autors noch immer im Ort seiner Kindheit liegt, ist in all seinen Geschichten spürbar. Dieses ist das bisher persönlichste Buch des 43-jährigen Schriftstellers. Denn er selbst ist der Erzähler.
Neben der Tragödie teilt er auch seine eigene Geschichte. Wir erfahren über den Tod seines Vaters, den Verlust einer Frau, die er liebte, den Suizid seines Onkels. Er schreibt auch über die Scheidung seiner Eltern, die damals ein «mittlerer Skandal» im Dorf war, «so was gehörte sich nicht». Oder auch über kleinere Abenteuer aus seiner Kindheit, etwa wie er mit seinen Brüdern vom abfahrenden Zug gesprungen ist.
Eine totgeschwiegene Tragödie
Zum Autor: Arno Camenisch
Janosch Abel
Arno Camenisch ist 1978 im bündnerischen Tavanasa geboren und aufgewachsen. Dort spielen auch die meisten seiner Bücher. Heute wohnt Camenisch in Biel. 2009 erschien im Engeler-Verlag der Roman Sez Ner, seither sind elf weitere Camenisch-Bücher erschienen. Seine Texte wurden in über 20 Sprachen übersetzt und seine Lesungen führen ihn quer durch die Welt. Drei seiner Bücher sind als Hörspiele und fünf für das Theater inszeniert worden.
Er bricht aber vor allem ein langes Schweigen. Das Unglück, das einen langen Schatten über das Dorf wirft, passierte eineinhalb Jahre, bevor Camenisch auf die Welt kam. Drei Buben aus Tavanasa starben im Feuer. Über die Tragödie sprach niemand, darüber wurde geschwiegen. Bis heute. Camenisch erzählt nun die Geschichte der drei Buben, gibt ihnen eine Stimme.
Er selbst sei so aufgewachsen, dass «man nicht über Sachen sprach». Dieses Schweigen bricht er nun – und findet die richtigen Worte. So, wie sie nur ein Vater finden kann. Es ist ein Buch über Verlust und was dieser mit den Zurückgelassenen tut.
Vom letzten Moment, bevor alles schliesst
Auch in seinem früheren Schaffen schrieb Camenisch auf seine unverkennbare Art vom Ende und Verschwinden der Dorfkultur in seiner Heimat: vom letzten Abend in der Dorfbeiz oder dem letzten Tag in der Dorfschule, bevor sie für immer schliesst, vom letzten Schnee am Skilift oder vom Kiosk, dessen letzter Hoffnungsschimmer die Leuchtreklame ist.
Auch in «Schatten über dem Dorf» thematisiert er, was der Wandel der Zeit mit der Dorfgemeinschaft gemacht hat. Die kleinen Läden, die es früher gab, sind nicht mehr. Die Strasse ist leer, kein einziges Auto fährt vorbei, man trifft keine Menschenseele an. Camenisch stellt dem Mikrokosmos Dorfleben die grossen Themen der Menschheit gegenüber.
Der Camenisch-Sound klingt feiner
Der Camenisch-Sound, sein unverwechselbarer Erzählton, klingt mit. Vertraut und doch anders. Ernsthafter, reifer, feiner. Der Autor geht sparsamer mit Dialektwörtern um. Und doch springt das Kopfkino an, das seine Sprache auslöst. Treue Camenisch-Lesende finden vertraute Bilder, etwa das Radio mit der abgeknickten Antenne, das dieses Mal in der Schublade liegt.
Das Kino im Kopf geht eindeutig tiefer, denn es löst stärkere Gefühle und eigene Erinnerungen aus. Die Camenisch-Welt wächst und reift mit jedem Buch ein Stück. All seine Werke drehen sich um das Leben, die Liebe und den Tod. Das Ende ist immer da. Und dieses Mal bewegt es besonders.
Camenisch gibt sich ganz rein und gewährt einen Blick in sein Inneres. Das berührt, auch weil wir alle Menschen verloren haben, die uns begleiteten, die wir liebten.