Ernährungsexpertin «Wir sollten diese Angst vor Kohlenhydraten ablegen»

Von Sulamith Ehrensperger

31.3.2021

Keine Angst vor Kohlenhydraten beim Sport: Eine zu tiefe Energieverfügbarkeit kann die Leistungsfähigkeit, Regeneration und die Immunfunktion beeinträchtigen. 
Keine Angst vor Kohlenhydraten beim Sport: Eine zu tiefe Energieverfügbarkeit kann die Leistungsfähigkeit, Regeneration und die Immunfunktion beeinträchtigen. 
Bild: Getty Images

Immer wieder wird uns eingebläut, bloss nicht zu viel zu essen. Und dass Sport beim Abnehmen helfe. Doch wer zu wenig isst, kommt weder beim Training noch beim Abnehmen voran. Im Gegenteil. 

Von Sulamith Ehrensperger

Viele Hobbysportler*innen wollen möglichst rasch deutlich sichtbare Muskeln entwickeln, beim Laufen schneller werden – und ganz viele treiben Sport, um abzunehmen.

Frau Matter, wie häufig unterschätzen Sportler*innen ihren Energiebedarf, um solche Ziele zu erreichen?

Ich treffe dieses Phänomen regelmässig an. Erhält unser Körper zu wenig Energie, sind wir nicht maximal leistungsfähig und fahren sozusagen mit angezogener Handbremse. Eine geringe Energiezufuhr kann zu einer reduzierten Energieverfügbarkeit führen, was wiederum diverse gesundheitliche Auswirkungen haben kann.

Vor allem jetzt im Frühling bewegen sich viele zum Sport, weil sie abnehmen wollen. Essen sie daher zu wenig?

Ja, das höre ich sehr oft. Bei etwa 50 Prozent der Hobbysportler bei mir in den Beratungen geht es beim Sport um das Gewicht, oder die Figur ist ihnen zumindest wichtig. Oft ist eine Gewichtsreduktion auch der Faktor, der sie zum Trainieren bewogen hat. Eigentlich ist es schade, dass sich so viele nur wegen der Figur zum Training zwingen, statt Freude daran zu haben. Sport ist übrigens kein Freipass, um beim Essen dann umso mehr zuzuschlagen, dieses Phänomen gibt es natürlich auch.

Sind es vor allem Frauen, die zu wenig essen?

In den Beratungen erlebe ich beides. Ein bisschen häufiger sind Frauen betroffen. Das kann aber auch daran liegen, dass sich Frauen eher mal Unterstützung holen. Jedoch beobachte ich, dass bei beiden Geschlechtern Abnehmen durch Sport ein grosses Thema ist. Ich möchte hier anmerken, dass nicht nur aktive Personen in eine zu tiefe Energieverfügbarkeit fallen können. Häufig sind auch Menschen mit einem höheren Gewicht betroffen, die abnehmen möchten und sich sehr restriktiv ernähren. Denn bei einem höheren Gewicht steigt auch der Energiebedarf und 2000 Kilokalorien können schnell mal zu wenig sein. Das wird oftmals nicht berücksichtigt.

Zur Person: Céline Matter
Céline Matter, Ernährungsberaterin im Sportbereich
zVg

Céline Matter  beschäftigt sich schwerpunktmässig mit Ernährung im Freizeit- und Leistungssport. Sie ist Ernährungsberaterin BSc, SVDE bei Merian Santé, dem Gesundheitsinstitut der Merian Iselin Klinik in Basel und bei Oviva, und Mitglied der Swiss Sports Nutrition Society SSNS. Als Ernährungsberaterin ist sie auch im E-Sport für das erfolgreichste Schweizer Team mYinsanity im Einsatz. 

Wie äussert sich eine zu geringe Energiezufuhr?

Energie ist das, was unser Körper benötigt, um Leistungen zu erbringen. Sei dies im Alltag oder im Sport. Erhält unser Körper zu wenig Energie, kann die generelle Leistungsfähigkeit, aber auch der Hormonhaushalt, die Verdauung und die Stimmung leiden. Am Anfang stehen meist Müdigkeit, Leistungsabfall, Konzentrationsprobleme, später leidet auch die Schlafqualität und die Regeneration. Man braucht länger Pause, bis man wieder fit ist, Ausdauerfähigkeit und Muskelkraft nehmen ab. Dafür nehmen Stimmungsschwankungen zu.

Was ist, wenn ich solche Körpersignale ignoriere?

Längerfristig kann es zu Vitamin- und Mineralstoffmangel kommen, da gehört der Eisenmangel zu einem der häufigsten. Der Körper wird anfälliger für Infekte. Der Hormonhaushalt gerät durcheinander. Bei Frauen wird das Östrogen weniger gebildet, was zum Ausbleiben der Periode und Abnahme der Knochendichte führen kann. Das Risiko von Stressfrakturen oder Ermüdungsbrüchen steigt. Ebenso kann das Verdauungssystem betroffen sein. Es ist eine Kaskade von verschiedenen Symptomen, die den ganzen Körper betreffen. Abhängig sind diese Symptome von der Grösse des Energiedefizits und der Dauer, in der eine Person schon in diesem Defizit steckt.

Was bedeutet Energieverfügbarkeit?

Unser Körper braucht Energie, um alle Körperfunktionen aufrechtzuerhalten, dass wir auch leistungsfähig sind und gesund bleiben. Wenn man längerfristig zu wenig Energie zu sich nimmt oder extrem viel Energie durch Sport verbrennt, kommt der Körper in eine negative Bilanz. Das per se ist noch nicht schlimm, ist diese negative Bilanz aber sehr gross, kann es zu einer zu tiefen Energieverfügbarkeit kommen. Das heisst nichts anderes, als dass der Körper die ganzen Funktionen und die Gesundheit nicht mehr auf einem entsprechenden Niveau halten kann. Im Sport reden wir dann von der Female Athlete Triad, die sich in Zyklusstörungen, gestörtem Essverhalten und verringerter Knochendichte zeigt. Da jedoch nicht nur Frauen von einer zu tiefen Energieverfügbarkeit betroffen sind und auch andere Symptome vorkommen können, hat sich der Begriff RED-S etabliert, das Relative Energiedefizit im Sport. Um das zu verhindern schaut man, wie viel Energie pro Tag zugeführt wird, wie viel Energie beim Sport verbrennt wird und ob genügend Energie übrig bleibt, damit der Körper alle Funktionen uneingeschränkt aufrechterhalten kann.

Kalorien richtig zählen ist gar nicht so einfach. Kann man die Energieverfügbarkeit für sich berechnen?

Ja, das ist möglich. Für eine genaue Berechnung braucht es allerdings die Menge an fettfreier Körpermasse, die mittels einer bioelektrischen Impedanzanalyse-Messung (BIA) bei Kliniken oder Fitnesscentern berechnet werden kann. Man kann aber auch eine Schätzung vornehmen. Machen wir ein Beispiel: Sagen wir mal, mein Körperfettanteil ist ungefähr 30 Prozent. Die fettfreie Masse erhalte ich, wenn ich die 30 Prozent von meinem Gesamtkörpergewicht abziehe. Wenn ich pro Tag etwa 2000 Kilokalorien zu mir nehme und zwei Stunden jogge, verbrenne ich dabei ungefähr 800 Kalorien. Meinem Körper stehen damit noch 1200 Kilokalorien zur Verfügung. Rechnen wir nun die 1200 Kilokalorien durch die fettfreie Masse, erhalten wir die Energieverfügbarkeit. Bei einer gesunden Person sollte diese einen Wert von 45 Kilokalorien pro Kilogramm fettfreie Körpermasse erreichen. Eine zu tiefe Energieverfügbarkeit besteht bei einem Wert von unter 30 Kilokalorien pro Kilogramm fettfreie Körpermasse. Bevor man sich jedoch in Zahlen verirrt, würde ich empfehlen, aufs Körpergefühl zu hören. Ständiger Hunger, Schwindel und Zyklusunregelmässigkeiten können erste Warnsignale sein. Wenn man das Gefühl hat, von einer zu tiefen Energieverfügbarkeit betroffen zu sein, lohnt es sich, sich Hilfe zu holen.

Yoga, Kraftsport oder Laufen: Welche Rolle spielt die Sportart?

Die Sportart und Intensität entscheiden unter anderem, wie viel Energie wir verbrennen. Ich sehe eine zu tiefe Energiezufuhr und damit das Risiko für eine zu tiefe Energieverfügbarkeit vor allem bei Ausdauersportlern, und das sowohl im Hobby- wie auch im Leistungsbereich. Bei diesen Sportarten ist man länger unterwegs und verbrennt dadurch oft mehr Energie. Bei Sportarten, bei denen das Gewicht eine Rolle spielt, etwa beim Kampfsport mit Gewichtsklassen, oder auch bei Sportarten mit einer hohen ästhetischen Komponente wie Synchronschwimmen oder Ballett kommt die zu tiefe Energieverfügbarkeit ebenfalls vor. Dort entsteht sie meist durch die zu stark eingeschränkte Nahrungszufuhr.

Wie sieht eine optimale Ernährung für eine ambitionierte Freizeitsportlerin aus?

Grundsätzlich unterscheidet sich die Ernährung von Sportler*innen nicht gross von den Empfehlungen für die allgemeine Bevölkerung.  Die Lebensmittelpyramide bietet da eine gute Grundlage. Je nach Trainingsumfang und Intensität können Sportler*innen aber mehr essen, das gilt ab fünf Stunden Sport pro Woche. Dann kann auch die Lebensmittelpyramide für Sportler*innen herangezogen werden. Yoga in entspanntem Rahmen oder eine gemütliche Velofahrt zur Arbeit würde ich aber nicht dazu zählen. Ich meine eher Sport von mittlerer bis hoher Intensität, bei der man ins Schwitzen kommt. Die Pyramide für Sportler*innen zeigt, dass pro Stunde Sport beispielsweise eine zusätzliche Portion Kohlenhydrate gegessen werden kann, um den höheren Energiebedarf zu decken. Das heisst, wenn ich pro Woche fünf Stunden Sport treibe, kann ich an einem Trainingstag locker eine grössere Portion Pasta schöpfen oder ein Brötli mehr essen.

Eine Frage, die immer wieder kommt: Essen vor oder nach dem Training?

Es kommt immer aufs Ziel an. Trainiert man, um abzunehmen, fitter oder schneller zu werden oder Muskeln aufzubauen? Grundsätzlich kann es vor einem langen intensiven Training Sinn machen, Energie in Form von Kohlenhydraten zu sich zu nehmen, beispielsweise eine Banane, ein Honigbrötchen oder ein Riegel. Das muss aber nicht zwingend sein, insbesondere wenn man nur für eine gemütliche Joggingrunde aus dem Haus geht. Nach dem Training gilt dasselbe: Wer schnell wieder bereit fürs nächste Training sein möchte oder Hunger hat, sollte essen. Dabei liegt der Fokus eher auf den Kohlenhydraten, da unsere Muskeln in den ersten 30 bis 45 Minuten nach dem Training ihre Kohlenhydratspeicher schneller füllen können. Wer nach dem Training sowieso bald eine nächste Hauptmahlzeit isst, braucht nicht zusätzlich noch einen Snack nach dem Training zu essen. Geht es um den Muskelaufbau, gibt es entgegen der allgemeinen Meinung kein Zeitfenster für die Einnahme von Proteinen nach dem Training. Viel wichtiger ist hier, regelmässig über den Tag verteilt 20 bis 30 Gramm Protein pro Hauptmahlzeit zu essen.

Wenn man sich abgeschlagen fühlt – vielleicht kommt man direkt von der Arbeit zum Training – macht es Sinn, vor dem Training zu essen?

Absolut. Meist ist die letzte Mahlzeit am Feierabend schon länger her und unsere Energiespeicher leer. Unsere Muskeln brauchen aber Energie, um funktionieren zu können. Einer meiner Klienten hatte nach dem Sport jeweils massiven Heisshunger. Seit er vorher etwas Kleines isst, ist er diesen los und viel leistungsfähiger im Training.

Viele vermeiden Kohlenhydrate, weil man immer wieder hört, sie würden dick machen. Eine berechtigte Befürchtung?

Wir sollten diese Angst vor Kohlenhydraten ablegen. Gerade im Sport sind sie die Hauptenergiequelle. Der Körper benötigt umso mehr Kohlenhydrate, je mehr er leisten muss. Low-Carb-Diäten sind für Leistungssportler deshalb oft kontraproduktiv, insbesondere im Ausdauerbereich. Der zweite Trend, von welchem ich im Leistungssport kein besonderer Fan bin, ist das intermittierende Fasten. Einen Energiebedarf zirka 3000 oder mehr Kilokalorien im erlaubten Zeitfenster von acht Stunden und in meist nur zwei Mahlzeiten abzudecken, ist sehr schwierig und die Leistungsfähigkeit leidet darunter. Eine regelmässige Energiezufuhr und ein normales Essverhalten sind etwas Wichtiges. Ich denke, wir sollten wieder mehr auf unseren Körper hören und ihm vertrauen, dass er seinen Job richtig macht, anstatt von Diät zu Diät zu rennen.


Weitere Informationen finden Sie im Blog von Céline Matter.