Arztgespräch«Viele haben vor der Narkose mehr Respekt als vor der OP»
Bruno Bötschi
19.3.2019
Eine Narkose macht vielen Patienten Angst. Peter Müller, leitender Arzt und Anästhesie im Kantonsspital Aarau, sagt, wie sie abläuft. Und er erzählt, was er in den letzten 30 Jahren im Operationssaal schon alles erlebt hat.
Herr Müller, Ärzte in TV-Serien sind fast immer Chirurgen. Woran könnte es liegen, dass Ihre Arbeit als Anästhesist beim Fernsehpublikum auf weniger Interesse stösst?
Möglicherweise sind wir Anästhesisten allgemein zurückhaltende Charaktere – zudem hat mit der Chirurgie alles begonnen. Dagegen ist die Anästhesie ein vergleichsweise junges Fach. Vor der ersten Operation unter Narkose 1846 in Boston, USA, operierte man entweder bei vollem Bewusstsein oder es wurden Kräuter oder Alkohol als Anästhetikum verwendet.
Die meisten Menschen haben grosse Angst vor einer Narkose. Wissen Sie, warum dem so ist?
Viele Patientinnen und Patienten haben häufig mehr Respekt vor der Narkose als vor der eigentlichen Operation. Und obwohl ich bereits über 25 Jahre als Anästhesist im Kantonsspital Aarau arbeite, kann ich nach wie vor nicht genau sagen, warum das so ist. Möglicherweise hängt es damit zusammen, weil sich der Mensch während einer Vollnarkose völlig in fremde Hände begibt und seine Autonomie für gewisse Zeit aufgibt.
Die erste Begegnung zwischen Patient und Anästhesist ist das Aufklärungsgespräch. Klärt sich da nur für den Patienten etwas – oder auch für den Arzt?
Während des Gespräches lernen wir den Patienten persönlich kennen, erfahren, ob er Ängste hat – und wenn ja, welche das sind. Wir wissen danach zudem, in welchem körperlichen Zustand der Mensch ist – wissen also, ob er ein Sünder war oder ein disziplinierter Mensch (lacht).
Wieso sollte der Patient mit seinem Gewicht nicht untertreiben?
Weil wir so die Dosierung des Narkosemittels besser voraussagen können. Aber ehrlich gesagt, mich belügt keiner um mehr als fünf bis zehn Kilogramm.
Was will, was muss der Anästhesist sonst noch wissen vom Patienten?
Wir hören das Herz ab und die Lunge, uns interessiert zudem die Beweglichkeit der Gelenke. Wir schauen auch das Gesicht des Patienten an, kontrollieren die Mundöffnungsfähigkeit und die Beweglichkeit des Halses.
Für was soll das gut sein?
Ist die Beweglichkeit des Halses eingeschränkt, kann dies Hinweis darauf sein, dass es Probleme bei der Intubation geben könnte, weil der Beatmungsschlauch schwieriger platziert werden kann.
Wird aus dem gleichen Grund auch der Zustand der Zähne kontrolliert?
Genau. Sind diese kariös und gar wackelig, besteht die Gefahr, dass es beim Intubieren zu einem Zahnschaden oder gar -verlust kommen kann. Aber keine Angst, bei einem gesunden Gebiss passiert dies so gut wie nie.
Spielt die Psyche des Patienten auch eine Rolle für die Behandlungssicherheit?
Ja. Ich versuche dem Patienten möglichst keine Angst zu machen und mich im Gespräch auf die wichtigsten Komplikationsmöglichkeiten zu beschränken. Ich würde zum Beispiel nie sagen, dass bei einer Teilnarkose die Wahrscheinlichkeit eines Versagens bei fünf Prozent liegt, sondern ich sage: Bei 95 Prozent der Patienten klappt das immer prima.
Bei Ihnen ist das Glas also halb voll statt halb leer.
Dem ist so.
Erst Tablette, dann Schläuche: Stimmt es, dass der Patient vor dem Narkotikum eine Beruhigungspille bekommt?
So ist es. Normalerweise schluckt der Patient noch im Zimmer ein Beruhigungsmittel. So kommt er bereits etwas geglättet im Operationssaal an. Er ist aber nach wie vor verhandlungs- und aufnahmefähig.
Wirklich wahr, dass man Kindern heute ein Tablet-Computer gibt, weil es ihre Aufmerksamkeit ähnlich stark bindet wie ein Beruhigungsmittel?
Von diesem Ablenkungsmanöver habe ich auch schon gehört, wir im Kantonsspital Aarau machen das aber nicht. Viele unserer Oberärzte sind jedoch Familienväter und haben auf ihren Smartphones Filmchen, die die Kinder schauen können. Und wir haben Stoffpuppen da, mit denen sie spielen können. Manchmal singe ich auch mit unseren kleinen Patienten. Ein Beruhigungsmittel kriegen die Kinder aber trotzdem verabreicht.
Gibt es ähnlich Sanftes auch für Erwachsene?
Nein. Bei den Erwachsenen muss der Anästhesist den Entertainer geben. Humor ist jedoch ein gutes Beruhigungsmittel. Mein Standartsatz bei ängstlichen Patienten ist ein Spruch von Linus van Pelt aus der Comicserie «Die Peanuts »: «Ein Nadelstich tut nicht weh, wenn man am richtigen Ende der Nadel steht.» Die Reaktion des Patienten darauf nutze ich jeweils zum Piksen – so spürt er die Nadel kaum.
Gibt es eigentlich so etwas wie das Beichten in den letzten Sekunden?
Das habe ich noch nie erlebt. Hin und wieder versuchen Patienten, bevor das Narkosemittel wirkt, noch etwas aus ihrem Alltag zu erzählen. Oft sind es solche, die sehr angespannt sind. Aber meist versteht man nur die ersten Worte, danach wird die Sprache zu verwaschen und ist nicht mehr verständlich. Solchen Patienten lege ich meistens die Hand auf die Schulter. Das beruhigt, sorgt dafür, dass sie in der Regel rasch einschlafen.
Wollen manchmal die Patienten kurz vor der Narkose noch jemanden anrufen?
Bei Notfall-Patienten kommt das regelmässig vor. Und das erlaubt man ihnen selbstverständlich.
Wie lange darf man jemanden überhaupt unter Vollnarkose setzen?
Da gibt es keine Limiten. Ich weiss von Siamesischen Zwillingen, die bei der Trennungs-OP 36 Stunden narkotisiert waren. Das sind natürlich Extreme. Meine längste Narkose, die ich als Anästhesist betreut habe, dauerte zwölf Stunden.
Während dieser Zeit waren Sie immer beim Patienten?
Die meiste Zeit, ja. Selbstverständlich gehe ich auf die Toilette oder esse kurz etwas, aber dann ist immer eine adäquate Ersatzperson im Operationssaal anwesend, die mich vertritt.
Was während der Narkose im Hirn passiert, scheint bis heute rätselhaft.
Mir auch (lacht).
Wie man bis heute auch noch nicht weiss, warum wir Menschen träumen.
Wir Menschen sind wirklich komplizierte Wesen.
Ich hatte bisher drei Vollnarkosen: Bei der erste dachte ich nach dem Aufwachen, ich könnte das angefangene Gespräch einfach fortführen, hätte also nur kurz die Augen geschlossen. Erleben Sie solche Dinge oft?
Das ist nicht untypisch. Es gibt Patienten, die nach der Narkose von ihren Träumen erzählen. Vor Jahren musste ich einen Arbeitskollegen intravenös anästhesieren. Als er wieder wach war, erzählte er mir, dass er im Traum als Notarzt mit der Rega auf einem Gletscher gelandet sei. Dort oben habe eine Blondine gelegen, nur mit einem Bikini bekleidet – und diese habe er retten müssen. Das fand ich ziemlich amüsant.
Was passiert sonst noch nach dem Aufwachen?
Es gibt Patienten, die mit einem absoluten Hochgefühl aufwachen und sagen: «Läck, habe ich gut geschlafen.» Das finde ich natürlich wunderbar, weil es bedeutet, dass ich die Narkose- und Schmerzmittel so dosiert habe, dass es dem Patienten kaum bewusst war, dass er operiert wurde.
Wie merken Sie während einer Operation, dass der Patient genügend narkotisiert ist?
Die klassischen Kontrollpunkte sind ein konstanter Kreislauf und die Herzfrequenz. Vegetative Zeichen wie Schwitzen oder Tränenfluss können Zeichen von Stress sein, Bluthochdruck auf Schmerzen hinweisen. Heutzutage kann die Tiefe der Narkose zudem mit Elektroden kontrolliert werden, die die Hirnströme messen. Mit dieser Methode wird schneller klar, wann die Wirkung des Medikaments nachlässt.
Bei zwei von 1000 Narkosen wacht der Patient während der Operation auf – kann sich aber meist nicht bemerkbar machen, weil seine Muskeln ausser Kraft gesetzt sind. Die absolute Horrorvorstellung.
Die Angst verstehe ich, aber solche Fälle kommen wirklich nur ganz selten vor. Das Entscheidende dabei ist zudem, ob eine interoperative Wachheit mit Schmerzen verbunden ist oder nicht.
Haben Sie so etwas selber schon erlebt?
Einmal – passiert ist es vor rund 15 Jahren, während eines Routineeingriffes. Nach dem Aufwachen fiel mir auf, dass sich ein junger Mann total anders benahm als vor der Operation. Er wirkte gestresst und schaute verängstigt. Im Gespräch, das ich danach mit ihm führte, konnte er mir dann einzelne Passagen aus den Diskussionen zitieren, die wir während der Operation geführt hatten.
Reichte das Gespräch mit dem Patienten oder brauchte es noch andere Behandlungen, um das Erlebte zu verarbeiten?
Das Gespräch war positiv – wir haben den Mann aber trotzdem noch beim psychologischen Dienst vorbeigeschickt. Wir wollten auf Nummer sicher gehen. In der Folge hatte der Mann zum Glück keine weiteren Probleme mehr.
Der Münchner Anästhesist Dirk Schwender liess seinen Patienten während der Narkose die Geschichte von Robinson Crusoe als Hörbuch vorlesen. Die Patienten wussten davon nach dem Aufwachen nichts, aber wenn sie gefragt wurden, was sie mit Freitag assoziieren, sollen signifikant viele geantwortet haben: Robinson Crusoe.
Diese Arbeit hat mich sehr beeindruckt. Sie hat unter anderem bewiesen, dass je nach Narkosemittel die Hörbahn während einer Operation nicht unterbrochen ist. Heutzutage werden aber Narkosemittel verwendet, welche in adäquater Dosierung die Hörbahn ausschalten.
Läuft während einer Operation im Kantonsspital Aarau eigentlich Musik?
Ja.
Haben alle Ärzte den gleichen Musikgeschmack?
Nein. Hin und wieder gibt es deshalb Diskussionen wegen des Musikgeschmackes des Operateurs – und wenn sich jemand sehr konzentrieren muss, wird die Musik ausgeschaltet.
Was läuft denn für Musik?
Radio Argovia – aber ehrlich gesagt, ich mag das nicht so.
Sie mögen Musik nicht?
Doch, ich liebe Musik. Aber ich denke, die Musik, die ich mag, würden die anderen nicht so gern hören.
Welche ist das?
Jazz und Klassik.
Wenn es ein optimales Wegdämmern gibt – gibt es dann auch ein ideales Aufwachen?
Na klar – eine Minute nach dem Anlegen des Verbandes, ohne hohen Blutdruck, ohne Herzrasen, ganz sanft: Das ist das ideale Aufwachen.
Wird bei Ihnen darauf geachtet, dass die letzte Stimme, die der Patient gehört hat, nach der Operation auch wieder die erste ist?
Das ist im heutigen Betriebsablauf nicht mehr möglich. Im Kantonsspital Aarau arbeiten 70 Anästhesie-Ärztinnen und -Ärzte, und im Zentral-OP gibt es 14 Säle. In jedem Saal werden täglich drei bis acht Menschen parallel operiert.
Sie arbeiten seit über 25 Jahren als Anästhesist im Kantonsspital Aarau. Welches waren die grössten Veränderungen in dieser Zeit?
Die Arbeit wurde unpersönlicher. Wir betreuen heute viel mehr Patientinnen und Patienten und sind heute viel mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Früher trat der Patient am Tag eins ins Spital ein, am zweiten Tag wurde er operiert, am dritten Tag besuchten wir ihn vor seiner Entlassung nochmals. Heute ist das komplett anders, das ambulante Operieren ist Alltag geworden.
Ärgert es Sie hin und wieder, dass sich der Normalbürger für Ihr Fach so gut wie gar nicht interessiert?
Nein.
Nach einer gelungenen Operation sind die Chirurgen immer die Helden.
Das ist kein Problem für mich, weil die guten Chirurgen genau wissen, was der Beitrag der Anästhesie zu einer gelungenen Operation ist.
Demnach gibt es die Halbgötter in Weiss nicht mehr?
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