Mein Berlinale-Fazit Mein Spurt durch Berlin – und warum diese sieben Tipps bleiben

Von Carlotta Henggeler

29.2.2020

Adieu, du 70. Berlinale, du warst gut zu mir, hast mich berührt, verzaubert. Für dich bin ich meinen ersten Marathon gelaufen. Und der hat sich gelohnt – besonders aus Schweizer Sicht.

In der Eröffnungsshow ist Moderator Samuel Finzi in bester «Lola rennt»-Manier zur Show gespurtet. Ein origineller Ansatz, so den Gala-Abend zur 70. Berlinale zu eröffnen. Was ich am Anfang noch nicht wusste: Mich erwartete dann im Verlaufe das gleiche Schicksal.

Wer möglichst viele Filme und Berlinale-Events besuchen will, der läuft einen veritablen Marathon durch die ganze Stadt. Die Kinosäle sind in allen Kiezen verteilt, die Event-Locations ebenfalls. Wer die Spree-Stadt schon gut kennt (und liebt), lernt trotzdem dank der Berlinale immer wieder neue Ecken kennen.  

Und dieser Berlinale-Marathon – samt strapazierten Füssen – wurde durch grossartige Filmproduktionen belohnt. 



Hier meine Berlinale-Empfehlungen, quasi die Grand Crus zum 70. Geburtstag des renommierten Filmfestivals. 

Originellstes Drehbuch: «Persian Lessons»

Der Film spielt 1942. Gilles, ein junger Belgier (Nahuel Pérez Biscayart), wird zusammen mit anderen Juden von der SS verhaftet und in ein Konzentrationslager nach Deutschland gebracht. Er entgeht der Exekution, indem er schwört, kein Jude, sondern Perser zu sein – eine Lüge, die ihn zunächst rettet. Doch dann wird Gilles mit einer unmöglichen Mission beauftragt: Er soll Farsi unterrichten. Der eigenwillige Offizier Koch (Lars Eidinger), Leiter der Lagerküche, träumt davon, nach Kriegsende ein Restaurant im Iran zu eröffnen. Wort für Wort muss Gilles eine Sprache erfinden, die er nicht beherrscht. Schafft es Gilles, den SS-Mann hinters Licht zu führen?

Fazit: Eine originelle Nervenkitzel-Story, brillant gespielt und mit überraschendem Ende. Wir spoilern aber nicht. Mit Lars Eidinger und Nahuel Pérez Biscayart. 



Emotionalste Geschichte: «Schwesterlein»

Lisa (Nina Hoss) hat ihre Theaterautorin-Ambitionen in Berlin aufgegeben und ist mit den Kindern und ihrem Mann, der eine internationale Schule leitet, in die Schweiz gezogen. Als ihr Zwillingsbruder Sven (Lars Eidinger), Starschauspieler an der Schaubühne, an Leukämie erkrankt, reist sie nach Berlin. Seine Hoffnung, wieder auf der Bühne zu stehen, gibt Sven Kraft für den Kampf gegen die Krankheit. Als sein Zustand sich verschlechtert und die Mutter (Marthe Keller), ebenfalls Schauspielerin, sich als unzuverlässig erweist, nimmt Lisa das Heft in die Hand und den Bruder mit in die Schweiz. Sie hofft, dass neue Behandlungsmethoden, Familienleben und Bergluft ein Wunder bewirken. 

Eine Geschichte, die unter die Haut geht. Ein traurig-schöner Film über Geschwisterliebe und den Kampf gegen den Krebs. Achtung: Nastüechli-Alarm. «Schwesterlein» ist eine Produktion der Schweizer Regisseurinnen Stéphanie Chuat, Véronique Reymond. Mit Nina Hoss, Lars Eidinger und Grand Dame Marthe Keller.

Verrücktester Plot: «Berlin Alexanderplatz»

«Berlin Alexanderplatz» ist die Geschichte von Francis (Welket Bungué). Auf der Flucht von Afrika nach Europa kentert er und rettet sich mit letzter Kraft an einen Strand der Mittelmeerküste. Dort schwört er dem lieben Gott, dass er von nun an ein guter, ein anständiger Mensch sein will. Bald führt Francis‘ Weg nach Berlin, und jetzt ist es an ihm, seinen Schwur auch einzuhalten. Doch die Lebensumstände als staatenloser Flüchtling machen es ihm nicht einfach. Das Schicksal wird ihn auf eine harte Probe stellen. Er trifft auf den zwielichtigen deutschen Drogendealer Reinhold (Albrecht Schuch), und die Leben der beiden Männer verbinden sich zu einer düsteren Schicksalsgemeinschaft. Immer wieder versucht Reinhold, Francis für seine Zwecke einzuspannen, immer wieder widersteht er. Schliesslich wird Francis von Reinhold verraten und verliert bei einem Unfall seinen linken Arm. Francis wird von Mieze (Jella Haase) aufgenommen und aus seiner Verzweiflung gerettet. Die beiden verlieben sich und werden ein Paar. Das Leben meint es also doch gut mit Francis alias Franz, oder? Es könnte ein Happy End geben. Könnte, denn das Leben und das Schicksal können launisch sein und eigene Wege gehen ...

Das heutige Berlin ist ein Moloch, Sodom und Gomorra zugleich. Es leben nur Kriminelle, Prostituierte und Verrückte in der Metropole? Ja, in «Berlin Alexanderplatz» schon. Schrill, schräg, mit grossartigem Cast aus Welket Bungué, Jella Haase und Albrecht Schuch. 



Spezielle Kameraführung: «Mare»

Mare braucht einen neuen BH, und auch die Waschmaschine müsste erneuert werden. Sie möchte einen vernünftigen Schulabschluss für die Kinder, wünscht sich, dass ihr Mann sie öfter ins Kino ausführt und will eigentlich wieder arbeiten gehen. Routiniert, aber engagiert, schmeisst sie den Haushalt ihrer Kleinfamilie mit bescheidenen Mitteln. Als ein namenloser Neuer im Ort auftaucht, wird klar, dass Mare nicht nur materielle Begehrlichkeiten umtreiben. Während über einem kleinen Ort tagein, tagaus die Flugzeuge vom Flughafen Dubrovnik in den blauen Himmel starten, bleibt die Kamera mit ihrer Protagonistin am Boden. Mares Familie zankt und rauft, scherzt und herzt sich. Konflikte werden zwischen Küche, Bad und Einkauf so schnell aufgeworfen, wie sie sich wieder verflüchtigen. Für geschliffene Worte bleibt keine Zeit in einem Alltag, der von Notwendigkeiten bestimmt wird, und die Impulsivität, mit der Mare ihre neu entfachte Libido auslebt, braucht hier zunächst keine Rechtfertigung.

Die Schweiz-Kroatin Andrea Štaka drehte mit kleiner (Familien-)Crew auf Super 16mm. Das ermöglicht eine besondere Nähe zu den Protagonisten. Authentisch und mitten aus dem Leben erzählt. Eine berührende Story mit anhaltendem Tiefgang.

Mutigster Film: «Saudi Runaway»

Mit der Kamera ihres Smartphones nimmt Muna, eine junge Saudi-Frau,  die Zuschauerinnen und Zuschauer mit in ihre Welt: eine Existenz hinter geschlossenen Türen, hinter Schleiern, hinter der Fassade einer anständigen Familie. Der Vater und ein oft zitierter zukünftiger Ehemann bestimmen Munas Leben. Als klar wird, dass ihr Reisepass bald abläuft und keiner von beiden einer Verlängerung zustimmen wird, plant sie ihre Flucht aus Saudi-Arabien. Augenblicke ungebrochener Lebensfreude – etwa wenn Muna sich haltlos für das seltene Ereignis eines Wolkenbruchs begeistert –, stehen in Kontrast zu ihrer beklemmenden Situation. Ungeachtet des Risikos protokolliert sie heimlich die Höhen und Tiefen ihres Alltags: den trüben Blick durch die Verschleierung und die Unbefangenheit der Frauen untereinander, die schleichende Bedrohung einer näher rückenden Zwangshochzeit und die gemeinschaftlichen Momente muslimischer Feiertage. Der Film dokumentiert anhand einer persönlichen Geschichte die Unterdrückung (junger) Frauen in Saudi-Arabien. Rund 1'000 Frauen gelingt die Flucht jedes Jahr. 

Filmemacherin Susanne Regina Meures schnitt aus Munas heimlich gefilmten Handysequenzen «Saudi Runaway» zusammen. Eine eindrückliche Geschichte einer unterdrückten Frau, die von einem selbstbestimmten Leben träumt und dafür ihre Heimat und Familie zurücklässt. Susanne Regina Meures studierte Film an der Zürcher Hochschule der Künste.

Zauberhaft: «Pinocchio»

Der Film hält sich treu an die berühmte Geschichte von der Holzpuppe, die auf Wunsch eines armen, einsamen Tischlers zum Leben erweckt wird. Wie jedes Kind ist Pinocchio neugierig auf die Welt und lernt durch Versuch und Irrtum. Der Römer Filmemacher Matteo Garrone («Gomorrha») verleiht der Welt Pinocchios eine visionäre Dimension, die wie das Buch einen weiten Bogen spannt: Die Figur bewegt sich in einem Kosmos, der real und fantastisch zugleich ist – ein ländliches, der Zeit enthobenes und dennoch unverkennbares Italien, das nach Erde, Meer und Bauernhof riecht. Unter den Figuren, die ihm auf seiner Reise, die ihn mit der Natur, dem Tierreich und der Welt der Fantasie konfrontiert, begegnen, wird jeder Zuschauer seinen Liebling finden. Die Meisterleistung von Maskenbildner Mark Coulier lässt die bekannten Gesichter der Schauspieler hinter den Rollen zurücktreten. Wie ein Chor verkörpern sie jene Menschlichkeit, die das einstige Holzstück erst erwerben muss.

Ein Märchen mit dem italienischen Oscarpreisträger Roberto Benigni («La vita è bella») als Geppetto. Zauberhaft inszeniert, eine Geschichte nicht nur für Kinder.

Bester Thriller: «Freud»

Die neue Netflix-Serie spielt im Wien von 1886. Der junge Sigmund Freud (Robert Finster) ist noch weit von seinem Status als weltweit verehrtes, nationales Denkmal entfernt. Für seine kuriose Idee des Unbewussten und den Einsatz von Hypnose wird er vom medizinischen Establishment belächelt und ausgegrenzt. Sein berufliches Ansehen steht auf dem Spiel, genau wie die Verlobung mit der geliebten Martha. Ablenkung findet er mit seinem Freund Arthur Schnitzler auf kokainberauschten Festen der feinen Wiener Gesellschaft. Als diese von einer mysteriösen Mordserie erschüttert wird, versucht Freud gemeinsam mit dem fragilen Medium Fleur (Ella Rumpf) und dem kriegstraumatisierten Polizisten Alfred Kiss, die Strippenzieher hinter dem Verbrechen zu entlarven, das bis in die höchsten politischen Kreise Wellen schlägt.

«Freud» ist ein gelungener Mix aus Biografie und einer packenden Krimi-Mystery-Geschichte. Hinter «Freud» steckt der bekannte Autor Marvin Kren («Rammbock», «4 Blocks»). Die Netflix-Serie besticht durch «Freud»-Darsteller Robert Finster und dem Schweizer Shooting-Star Ella Rumpf. 

Berlinale 2020: Die Eröffnungsparty.

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