Kolumne am Mittag Doppelte Aussenseiterin – doch Rahel Varnhagen war ihrer Zeit voraus

Von Lukas Meyer

19.5.2021

Die Emanzipation der Juden wie auch der Frauen waren für Rahel Varnhagen wichtige Anliegen.
Die Emanzipation der Juden wie auch der Frauen waren für Rahel Varnhagen wichtige Anliegen.
Gallerie der ausgezeichnetsten Israeliten, hg. Eugen von Breza, Stuttgart 1834

Vor 250 Jahren wurde Rahel Varnhagen in Berlin geboren. Die Schriftstellerin ohne Werk und stadtbekannte Gastgeberin war ihrer Zeit in vielem voraus.

Von Lukas Meyer

Zum Namen, unter dem sie heute bekannt ist, kam Rahel Varnhagen erst mit 43 Jahren. Am 27. September 1814 heiratete sie den 14 Jahre jüngeren Karl August Varnhagen, einen Diplomaten und Schriftsteller. Einige Tage zuvor hatte sie sich taufen lassen und war zum evangelikalen Christentum konvertiert.

Geboren wurde Rahel Varnhagen am 19. Mai 1771 als ältestes Kind des jüdischen Bankiers Markus Levin. Die Familie, von der sie als unverheiratete Frau lange abhängig war, nahm später den Namen Robert an. Die junge Rahel wurde von Hauslehrern, in diversen Sprachen, Literatur, im Tanzen und am Klavier. «Ein Mädchen von ausserordentlichem Verstand» und «eine schöne Seele» – so nannte der von ihr verehrte Goethe die 24-Jährige nach einem Treffen im Jahr 1795. Den Dichterfürsten traf sie mehrmals und korrespondierte auch mit ihm.

Im Haus ihrer Familie am Berliner Gendarmenmarkt, in der Nähe des Schlosses des preussischen Königs, führte Rahel Robert ab 1793 einen Salon, in dem gesellige Runden zusammenkamen. Das war eine Möglichkeit für sie, etwas zu bewirken, ihren Interessen nachzugehen und sich mit interessanten Gesprächspartnern auszutauschen. Als Frau und als Jüdin war sie eine doppelte Aussenseiterin. Damit haderte sie stets: «Ich verstell mich, artig bin ich, dass man vernünftig sein muss, weiss ich», schrieb sie in einem Brief.

Geselligkeit bei Rahel Varnhagen – allerdings ist das keine zeitgenössische Abbildung.
Geselligkeit bei Rahel Varnhagen – allerdings ist das keine zeitgenössische Abbildung.
Bild: Bildarchiv Preussischer Kulturbesitz

In ihren geselligen Runden kamen Personen aus verschiedenen Ständen und allen politischen Richtungen zusammen – Adlige wie Prinz Louis Ferdinand von Preussen, Schriftsteller wie Jean Paul und Ludwig Tieck, die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt, Politiker wie Friedrich von Gentz. Nicht alle Gäste hatten klingende Namen, und auch die Genannten wurden oft erst später berühmt. Die Mischung der verschiedenen Weltanschauungen und Glaubensrichtungen sollte die Diskussion anregen und die Emanzipation aller Beteiligten fördern – ein grosses Anliegen für Varnhagen. Es war eine offene Zeit mit vielen Umwälzungen, in Frankreich hatte die Revolution gerade die Monarchie weggefegt und in ganz Europa herrschte Aufbruchstimmung.

Ab 1820 führte sie mit ihrem Mann wieder einen Salon, der allerdings konventioneller war als ihr erster. Das politische Klima hatte sich nach den Kriegen von Napoleon und dem anschliessenden Wiener Kongress geändert, die konservativen Kräfte dominierten nicht nur in Berlin. Trotzdem kamen Gäste wie der Philosoph G.W.F. Hegel oder die Schriftsteller Heinrich Heine und Bettina von Arnim zu den Varnhagens.

Doch Rahel Varnhagen war nicht nur Gastgeberin, sondern schrieb auch selber. Zu Lebzeiten veröffentliche sie nur wenige Texte in Magazinen, ihr Werk besteht vor allem aus Tagebüchern und unzähligen Briefen. Erst nach ihrem Tod 1833 gab Karl Varnhagen eine Auswahl mit Briefen und Tagebuch-Auszügen heraus. «Rahel: Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde» umfasst in der heute erhältlichen Ausgabe über 3000 Seiten in sechs Bänden.


Regelmässig gibt es werktags um 11:30 Uhr und manchmal auch erst um 12 Uhr bei «blue News» die Kolumne am Mittag – es dreht sich um bekannte Persönlichkeiten, mitunter auch um unbekannte – und manchmal wird sich auch ein Sternchen finden.