TV-Star Jürgen von der Lippe«Ich gehöre noch zur Generation, die den Arsch voll gekriegt hat»
Von Kai-Oliver Derks
1.2.2025
«Das Abschlaffen des einen oder anderen Organs»: Jürgen von der Lippe auf die Frage, was das Schlimmste im Alter sei.
Bild:Andre Kowalski
Fernsehen macht er nur noch so nebenbei: Doch der Bühne bleibt Jürgen von der Lippe ebenso verbunden wie dem Schreiben. Ein Interview über das Älterwerden und Wege, sich die Leichtigkeit zu erhalten.
Von Kai-Oliver Derks
01.02.2025, 07:54
01.02.2025, 09:14
Bruno Bötschi
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Moderator, Komiker, Musiker, Entertainer und Autor: Jürgen von der Lippe gilt als künstlerisches Ausnahmetalent.
Jetzt verrät 76-Jährige, warum es ihn auf die Bühne zog und weshalb er auch heute noch gerne dort oben steht.
Und er erzählt detailliert über seine Kindheit: «Wenn ich Scheisse gebaut habe, gab’s ein paar Hiebe mit dem Kochlöffel, aber anschliessend war es auch wieder gut. Keine stille Treppe, kein Stubenarrest – das war ohnehin keine Option, ich hatte ja kein eigenes Zimmer.»
Gespräche mit Jürgen von der Lippe sind in vielerlei Hinsicht eine Freude. Manchmal philosophisch, manchmal sehr prosaisch. Manchmal humoristisch, manchmal todernst. Und immer in positiver Weise unberechenbar.
76 Jahre ist der Unterhalter mittlerweile. Immer mal wieder ist er im Fernsehen zu sehen – bei Quizshows zum Beispiel. Zu seinen schönsten Erfahrungen im TV zählt er bis heute «Was liest du?», eine vom WDR von 2003 bis 2010 ausgestrahlte Sendung, in der von der Lippe zusammen mit prominenten Gästen Bücher präsentierte.
Nach dem Ende des TV-Formats setzte er das Konzept in ähnlicher Form im Netz bei YouTube fort. «Lippes Leselust» läuft derzeit mit Erfolg in der vierten Staffel. Darüber hinaus ist soeben sein aktuelles Buch erschienen: eine Sammlung von Geschichten und Glossen, die den zungenbrecherischen Titel «Sextextsextett» trägt.
Jürgen von der Lippe schreibt darin über Sprachschlampereien und Boote, die «Phimose» heissen. Über mässiges Übergewicht, das Duzen und Siezen und über einen Drei-Gang-Wagen aus der Studenten-Zeit.
Jürgen von der Lippe, hatten Sie wirklich diesen Renault 4, der August Hörnchen hiess?
Es war ein gebrauchter, himmelblauer R3, hoffnungslos überteuert, aber schnell im Anzug. Nur riss ständig der Keilriemen, das hat meine Freundin viele Strumpfhosen gekostet. Wobei ... ich habe das Autofahren nie wirklich genossen.
Aber den Führerschein haben Sie dennoch gemacht ...
Ja, schon beim Bund. Das gehörte zur Offiziersausbildung. Ich sollte sogar alle möglichen Führerscheine machen. Aber als Erstes setzte ich ein Maico-Motorrad an die Wand. Dann kam dieser Unimog mit dem Zwischengas – verstand ich nicht. Lastwagen konnte ich auch nicht. Na ja ...
Sie waren als Zeitsoldat drei Jahre beim Bund. Man kann sich Jürgen von der Lippe nicht wirklich vorstellen als herumbrüllenden Zugführer eines Panzergrenadierbataillons ...
Muss man auch nicht. Ich war bei den Fernmeldern. In Lippstadt verbrachte ich mein letztes Jahr, erst als Oberfähnrich, dann als Leutnant und Zugführer, in der Ausbildungskompanie. Natürlich war ich eine völlige Fehlbesetzung.
Aber aufgrund meiner schauspielerischen Begabung bestand ich alle Lehrgänge, sogar den gefürchteten Einzelkämpfer-Lehrgang in Hammelburg. Aber gut, drei Jahre Bundeswehr waren schon ein bisschen viel.
Für mich war und ist Pazifismus keine logisch haltbare Position. Es hat noch nie einen Aggressor davon abgehalten, jemanden anzugreifen, der sich nicht verteidigen kann. Warum sollte er dann nicht jemanden angreifen, der sich nicht verteidigen will?
Die aktuelle politische Lage scheint Ihnen recht zu geben.
Selbst Robert Habeck sagt, dass er heute nicht mehr verweigern würde. Es ist doch leider so: Den Menschen gibt es ja mit Blick auf die Geschichte des Planeten noch nicht so wirklich lange. Wir müssen mit unserem tierischen Erbe leben, dieses Fressen-und-gefressen-Werden.
Natürlich wünscht sich jeder eine Welt, in der die Vernunft unser Handeln bestimmt, aber wenn wir in uns reinhören, schauen, wie oft wir heftig und feindselig reagieren, mit Worten oder Taten ...
Das Verhalten des Menschen ist also vor allem eine Sache der Gene?
Und natürlich auch der Erziehung.
Wie meinen Sie das?
Ach, ich will diese Diskussion eigentlich nicht wieder aufmachen. Ich erinnere mich an den Trubel um Loki Schmidt (Anmerkung der Redaktion: Ehefrau des deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt), als sie meinte, dass eine Ohrfeige noch keinem Kind geschadet habe. Aber ich gehöre natürlich noch zu einer Generation, die den Arsch voll gekriegt hat. Daheim und auch in der Schule.
Wenn ich Scheisse gebaut habe, gab es ein paar mit dem Kochlöffel hintendrauf, aber anschliessend war es dann auch gut. Keine stille Treppe, kein Stubenarrest, ging auch nicht, ich hatte ja kein eigenes Zimmer. Heute ist jede Form von Gewalt verpönt, theoretisch. De facto ufert sie immer mehr aus.
«Heute gibt es eine ständig zunehmende Prüderie. Bedingt durch die Wokeness. In gewisser Hinsicht sind die 50er-Jahre wieder da, nur ohne die Kirche»: Jürgen von der Lippe.
Bild:Andre Kowalski
Bei Ihren Auftritten im Fernsehen und auf der Bühne umgibt Sie stets eine Leichtigkeit, eine Positivität. Wie gelingt Ihnen das in diesen Zeiten?
Ehrlich, ich möchte nicht ernsthaft darüber nachdenken, was aus all diesen verschiedenen Kriegsschauplätzen wird. Putin kann man nicht einschätzen, Trump auch nicht. Dazu der Nahostkonflikt. Hierzulande ist es nicht mal hundert Jahre her, dass sechs Millionen Juden umgebracht wurden. Und plötzlich entsteht hier wieder Antisemitismus.
Bei alldem, das gebe ich zu, nutzt mir der Humor auch nicht viel. Ich habe keine Lösungen, genauso wenig wie andere. Und sich über solche Dinge bei meinen Auftritten lustig zu machen, ist keine Option. Also bleibt nur Eskapismus, Lachen über Alltagsdinge.
Ihre eigene TV-Karriere startete 1980 mit dem «WWF-Club» und beinhaltete danach viele verschiedene Formen der Unterhaltung. Nur eine klassische Late-Night-Show war nicht dabei. Wäre das nichts für Sie gewesen?
Womöglich hätte mir das gefallen, aber es wurde mir nie angeboten. Harald Schmidt hat das eben auch grandios gemacht, besser als jeder andere. Und selbst bei ihm liess das Interesse des Publikums irgendwann nach. Ich selbst habe stets versucht, meine Sendungen aufzuhören, bevor der Sender auf die Idee kam. «Donnerlippchen» zum Beispiel, das ja ein grosser Erfolg war. Da sagte ich irgendwann dem WDR, dass ich nicht weitermachen will. Ich erinnere mich gut an den Satz des Unterhaltungschefs: «Das ist aber schade. Dann lassen Sie sich mal was anderes einfallen.» Das waren noch Zeiten, so ein Satz ist heute unvorstellbar.
Dann kam «Geld oder Liebe», das zu Ihrem wahrscheinlich grössten TV-Erfolg wurde.
Weil Geld keine Rolle spielte. Ganze 14 Tage konnten wir uns mit jeder Folge beschäftigen, davon eine Woche direkt im Studio. Ich hatte sechs Spiele-Autoren und einen Head-Autor für die Gags und natürlich ein Riesenteam, die alle mit Spass dabei waren. Ansonsten gab es den Redakteur, den Unterhaltungschef und den Intendanten und nicht wie heute Dutzende von Frühstücksdirektoren, die ihren Senf dazugeben wollen.
Sie werden in diesem Jahr 77. Verraten Sie uns bitte: Was ist das Schöne am Älterwerden?
Da möchte ich Theodor Fontane zitieren, der sagt: «Das Alter hat viel Hässliches und Dummes, aber ein Gutes hat es: Nichts ist von besonderer Wichtigkeit. Man kann es so machen oder auch so.» Das trifft es. Dieser Hang zur Überbewertung der eigenen Meinung lässt im Alter deutlich nach. Weil auch ich zu oft erlebt habe, dass ich falsch lag. In der Jugend hält man sich oft für unfehlbar. Aber die hormonell bedingte Altersmilde entspannt und macht toleranter. Ich denke schon, dass ich viel verträglicher geworden bin.
Bei manchen ist das ja Gott sei Dank nicht lebensbedrohlich.
Aber es summiert sich: Arthrose, Haarausfall. Und vergesslich werde ich auch, das ist schlimm. Gestern sass ich in einem Restaurant, hatte Tatar und orderte Ketchup und Senf dazu. Ich verkündete der entsetzten Kellnerin, dass dies das Rezept sei von ... und dann war der Name weg. Es war Henri Nannen, wie mir beim Nachtisch einfiel. Solche Probleme hatte ich aber auch schon früher, aber seltener. Ich kannte zum Beispiel den Namen des Leadsängers, aber der Bandname fiel mir nicht ein. Einmal war bei «Was liest du», als ich mich verabschieden wollte, sogar der Name des Gastes weg. Ich habe dann gefühlte 20 Minuten seine Meriten aufgezählt, dann fiel er mir zum Glück ein, das ist die Hölle!
Gut, dass Sie dann jetzt wieder auf Lesetour gehen. Das Buch auf dem Tisch wird Ihnen sicher helfen.
Welches Buch? Ein Scherz. Es heisst «Sextextsextett», um nochmal den Titel zu nennen. Mein 16. übrigens.
Stichwort Krankheiten: In vielen Sendungen mit Harald Schmidt kokettierten Sie damit, dass Sie ein ... ach das ist jetzt noch so ein Wort, das sich kein Mensch merken kann ...
... Nosophobiker ...
... dass Sie Nosophobiker sind. Das beschreibt die übersteigerte Angst, krank zu werden. Was tun Sie denn dagegen? Das wird ja vermutlich im Alter nicht weniger.
Irgendwas ist ja immer. Vor einem Jahr hatte ich was mit dem Auge. War ich in der Klinik in Dortmund. Bindehautentzündung. Tropfen gekriegt. Sollte vier Wochen dauern. Stimmte. Jetzt war ich in Schwerin. Wieder Auge. Gerstenkorn. Tropfen. Salbe. Dauert vier Wochen, hiess es. Nach zwei Monaten war es kleiner, aber das Auge immer noch knallrot und tränte ganztägig. Ist super beim Lesen. Nächster Arzt, andere Tropfen, keine Salbe. Jetzt wird's langsam besser.
Sie haben also weiterhin Vertrauen in die Medizin?
Ich gehöre zu den Menschen, die den Herrn und die Frau Doktor als Autorität dem Internet vorziehen. Und das tut mir gut.
Sie hadern nicht mit dem Alter?
Nein. Wirklich nicht. Ich tue aber auch einiges, um fit zu bleiben. Zu Hause hatte ich die Wahl, mir ein Gästezimmer oder einen Sportraum einzurichten. Wie oft hat man Übernachtungsgäste und wie oft sollte man Sport machen? Also keine Frage. Im Hotel nutze ich, wenn es kein Gym gibt, auch einige Apps. Diese Stuhlübungen für Senioren sind zum Beispiel super ...
Sind das die aus der Werbung, in der eine KI-generierte Rentnerin mit harscher Stimme befiehlt, man müsse seine Beine minutenlang von links nach rechts und zurück heben?
Klasse ist das. Es gibt da viele interessante Angebote, Abwechslung ist wichtig. Man kann die Beine auch hoch und runter bewegen.
Aber ohne Disziplin wird es nicht gehen.
Die habe ich beim Bund gelernt. Dort entstanden eine gewisse Leidensfähigkeit und die Bereitschaft, eigene Grenzen zu überschreiten. Ich habe gehört, dass Boxer in der Kabine beim Aufwärmen schon zweimal über den toten Punkt gehen.
«Aber alles, was ich beruflich mache, tue ich, weil es mir Freude macht. Und ich habe immer versucht, es so gut wie möglich zu machen»: Jürgen von der Lippe.
Bild:Henning Kaiser/dpa
Leben Sie und Ihre Ehefrau eigentlich immer noch an zwei verschiedenen Orten in Berlin?
Es hat sich nichts geändert daran, dass meine Frau mitten im Wald wohnt. Zwei Seen vor der Tür. Hunde. Und das ist nicht meins, jedenfalls nicht für lange. Ich bin Stadtmensch, brauche Läden und vielfältige Gastronomie in Gehweite. Wir treffen uns mal bei ihr, mal bei mir. Jeder Psychologe wird Ihnen sagen: Sorgen Sie mindestens für getrennte Schlafzimmer, besser noch getrennte Wohnungen. Getrennte Städte sind auch schön.
Sie sind ein alter, weisser Mann und werden in diesem Land mehrheitlich gemocht. Das ergeht nicht jedem Fernsehstar von einst so.
Ich habe immer gesagt, die Bühnenshows sind mir wichtiger als das Fernsehen. Jetzt habe ich nach über 50 Jahren, 16 Büchern und 20 Programmen eine feste Fangemeinde, die mittlerweile ihre Kinder und sogar Enkel mitbringt, die mich wiederum von meinem YouTube-Kanal kennen, 450 Videos, fast 360.000 Abonnenten. Gerade die Leselust-Videos mit Torsten Sträter laufen toll.
Müssen Sie darauf achten, zum Beispiel in einem Interview-Moment wie hier und jetzt, dass Sie nicht in die Thomas-Gottschalk-Falle tappen?
Ach, der Fehler ist doch offensichtlich, dass er auf Twitter, jetzt X, unterwegs ist, und sich das alles anschaut, was über ihn gesagt wird. Das mache ich nicht. Ich schaue mir die Kommentare bei meinem YouTube-Kanal an. Da sind dann von 100 zwei negativ.
Stören Sie die Hater im Netz nicht?
Ehrlich, mir tun diese Leute leid, die im Netz unterwegs sind, womöglich unter verschiedenen Identitäten, und einfach nur hetzen wollen. Was ich aber wirklich schlimm finde, ist der Fall von Thilo Mischke, der eigentlich das Kulturmagazin «ttt» im Ersten moderieren sollte. Man war sich in der ARD einig, so lese ich, dass er es macht. Plötzlich wird ihm sein 15 Jahre alter Buchtitel «In 80 Frauen um die Welt» vorgehalten.
Sicher keine geschmackliche Glanztat, aber dann zerreissen sich 1000 Leute im Netz das Maul, und bei der ARD wird prompt entschieden, dass man ihn nicht mehr nimmt. Nicht wegen des Buchtitels, sondern erklärtermassen wegen der Aufregung im Netz. 1000 Heinis reichen also, um einem qualifizierten Journalisten den Job wegzunehmen. Cancel culture at it's best. Na bravo!
Externer Inhalt
Dieser Inhalt stammt von externen Anbietern wie Youtube, Tiktok oder Facebook.
Aktiviere bitte "Swisscom Werbung bei Dritten", um diesen Inhalt anzuzeigen.
Wenn Sie als junger Mensch mit Ihrer Art zu unterhalten noch einmal antreten würden, in dieser Branche, in dieser medialen Welt, würde das funktionieren?
Ich denke nicht. Ich erinnere mich an den «WWF Club», freitags. Mein Chef teilte mir damals mit, dass wegen mir jede Woche die katholische Kirche auf der Matte stehe. Und er hat das weggebügelt. Heute gibt es eine ständig zunehmende Prüderie. Bedingt durch die Wokeness. In gewisser Hinsicht sind die 50er-Jahre wieder da, nur ohne die Kirche.
Die Kirche war schon immer ein Lieblingsthema von Ihnen. 1994 erschien die Kinokomödie «Nich' mit Leo», in der Sie einen Pfarrer spielten. Die Kritiken waren wenig erbaulich.
Eine habe ich noch im Kopf. Jemand schrieb, ich sei von Kirchenhass zerfressen.
Das «Lexikon des internationalen Films» meinte: «Ein auf Spielfilmlänge gestreckter Herrenwitz. Der zotige Klamauk wird nur selten von originellen Einfällen durchbrochen, und dem Hauptdarsteller fehlt jedes Talent. Ein ebenso öder wie ärgerlicher Film.»
Soooo ... (lächelt)
Das gefällt Ihnen ...
Sehr.
Gibt es etwas, das Sie bereuen?
Privat das eine oder andere. Aber alles, was ich beruflich mache, tue ich, weil es mir Freude macht. Und ich habe immer versucht, es so gut wie möglich zu machen.
Mehr Videos aus dem Ressort
Noah di Bettschen: «Das Trinken von Alkohol fühlte sich wie eine Umarmung meines Vaters an»
Noah di Bettschen ist Maler. Der 22-Jährige schaffte innert Kürze, was andere Künstler*innen nie gelingt: Er lebt vom Verkauf seiner Bilder. Ein Gespräch über den Kunstmarkt, schwierige Familienverhältnisse und zu viel Alkohol.