Kieler «Tatort» im Check Gab es das deutsche Woodstock mit Jimi Hendrix wirklich?

tsch

10.4.2022

Der Milberg-«Tatort» war feinstes «Nordic Noir»-TV mit grossem Schauspiel. Der Plot-Aufhänger, das Love-and-Peace-Festival mit Jimi Hendrix, war dabei alles andere als frei erfunden. Das Rock-Grossereignis sollte 1970 das deutsche Woodstock werden – und geriet zum Desaster.

tsch

Der Vorverkauf für das vom 4. bis 6. September 1970 stattfindende Love-and-Peace-Festival auf der deutschen Ostseeinsel Fehmarn fand unter anderem in den Sex-Shops von Sponsorin Beate Uhse statt. 60'000 Besucher erwarteten die Macher, doch nur 25'000 kamen. Auch sonst verlief das dreitägige Gross-Event, von dem der Kieler «Tatort: Borowski und der Schatten des Mondes» am Rande erzählte, ziemlich chaotisch.

Was alles schieflief, warum Axel Milbergs Sohn August in die Rolle des jungen Borowskis schlüpfte und wie es sein kann, dass eine 2020 verstorbene Schauspiel-Legende in diesem Film noch einmal einen grossen Auftritt hatte, wird hier beantwortet.

Worum ging es?

Nach einem Herbststurm wird unter einer entwurzelten Eiche ein skelettierter Leichnam gefunden. Es sind die Überreste Susannes, Borowskis (Axel Milberg) erster Freundin, die 1970 auf dem Weg zum Love-and-Peace Festival auf Fehmarn verschwand und nie wieder auftauchte. Borowski wirkt tief getroffen, Kollegin Mila Sahin (Almila Bagriacik) kann ihn kaum noch erreichen.

Der Kommissar sucht den greisen Vater Susannes auf (der mittlerweile verstorbene Hamburger Kult-Schauspieler Peter Maertens) und «beamt» sich mit Flashbacks ins Jahr 1970, um sich mit der eigenen Schuld, dem Verlust, aber auch dem Kriminalfall von damals auseinanderzusetzen. War ein später verurteilter Vergewaltiger – wie viele annehmen – tatsächlich auch der Mörder Susannes? Und was hat der softe Musikliebhaber und Waldspaziergänger Michael Mertins (Stefan Kurt) mit der Sache zu tun?

Worum ging es wirklich?

Um dunkle Gänsehaut-Unterhaltung, die im heutigen Krimifernsehen oft anvisiert, aber selten so gut getroffen wurde wie hier. Die Autoren Patrick Brunken («Das Haus») und Torsten Wenzel («Colonia Dignidad») schufen einen klassischen «Nordic Noir»-Krimi mit Serienmörder, seltsam bestatteten Leichen und viel dunkler Waldatmosphäre. Auch Regisseur Nicolai Rohde («Julia Durant») machte einen prima Job.

Zahlreiche Drohnenbilder fingen den Wald und das Personal dieses Krimis aus der Luft von weit oben ein, was ein sehr einsames Gefühl erzeugte, um dann wieder in den schauspielerischen Infight mit Nahaufnahmen von Gesichtern und gut geschriebenen, intensiven Dialogen zu gehen. Einer der dichtesten, besten Milberg-«Tatort»-Krimis seit langem.

Wer spielte den alten Vater des Opfers?

Von der charismatischen Darstellung eines seit 50 Jahren trauernden Vaters waren wohl alle gerührt: Die Rolle wurde von der Hamburger Schauspiellegende Peter Maertens verkörpert, der bereits im Juli 2020 im Alter von 88 Jahren verstarb. Tatsächlich entstand dieser «Tatort» 2019, er lag aber aus «programmplanerischen Gründen» ungewöhnlich lange in den Regalen des NDR herum.

Auch für August Milberg, der den jungen Borowski spielt, muss dies eine seltsame Erfahrung sein. Zur Ausstrahlung des Films sprach der 18-jährige Abiturient gerade über seine erste und bisher einzige Schauspiel-Erfahrung. Als der «Tatort» gedreht wurde, war August Milberg erst 15 Jahre alt.

Wer trat beim Love-and-Peace Festival 1970 auf?

Das berühmte Isle-of-Wight Festival, auch als «Europas Woodstock» bezeichnet, fand am Wochenende zuvor auf der Insel vor der englischen Südküste statt. Die drei Fehmarn-Veranstalter, junge Männer, die mit dem Veranstalter-Business zuvor eher wenig Erfahrungen hatten, verfolgten die an sich gute Idee, viele Superstars vom Isle-of-Wight-Festival im Anschluss auf die deutsche Ostseeinsel zu locken.

Geklappt hat dies allerdings nur bei Jimi Hendrix, der wenige Tage später – am 18. September 1970 – in London verstarb. Angekündigt auf Fehmarn waren ausserdem Supestars wie Procol Harum und Ten Years After, die jedoch – unter wütenden Protesten des Publikums – «ausfielen». Immerhin gab es an einem sehr stürmischen und verregneten Wochenende auf Fehmarn 1970 noch Gigs von Mungo Jerry, Canned Heat sowie Sly & the Family Stone zu sehen.

Was ging sonst noch beim Festival schief?

Neben dem katastrophalen Wetter mit chaotischen Auftritten und vielen Band-Ausfällen geriet das Festival auch finanziell zum Desaster. 200'000 D-Mark sollte das Ganze kosten, doch das Budget stieg schnell auf 500'000 Mark an. 70'000 Mark und eine besondere Behandlung – Transfer zum Festival mit einem Mercedes, einen Luxus-Wohnwagen auf dem Festivalgelände – erhielt alleine Jimi Hendrix.

Beim Festival selbst gab es Gewalt-Vorfälle durch die als Ordner engagierten Hells Angels. Die Zerstörungen und Flurschäden am Veranstaltungsort rund um den Leuchtturm Flügge gingen weit über die an die Behörden geleistete Garantiesumme von 5000 D-Mark hinaus. Das Festival geriet zur finanziellen Katastrophe, bei der viele Gläubiger auf ihren Forderungen sitzenblieben. Überflüssig zu erwähnen, dass es keine Fortsetzung gab ...

Wo spielte Axel Milbergs Sohn August bisher sonst noch mit?

Nirgendwo. Für den damals 15-Jährigen, der auf Vorschlag der NDR-Produzenten des «Tatorts» zum Casting eingeladen und für die Rolle des jungen Borowskis ausgewählt wurde, war es die erste und bislang einzige Schauspielerfahrung. Der mittlerweile 18-Jährige macht gerade sein Abitur und möchte danach «erst mal reisen». Eine Schauspielkarriere kann er sich danach eher nicht vorstellen, weil der junge Mann «nicht so gern im Mittelpunkt steht».

Etwas Kreatives darf es beruflich dennoch gern sein, verriet August Milberg im Doppelinterview mit seinem Vater bei der Agentur teleschau. August Milberg ist der Sohn des Schauspielers Axel Milberg und der Künstlerin Judith Milberg. Beide haben noch Kinder aus früheren Beziehungen. August Milberg wurde 2003 geboren – in jenem Jahr, in dem sein Vater als Klaus Borowski seine Arbeit beim «Tatort» in Kiel aufnahm.