Sie brachte Facebook ins Wanken «Mark Zuckerberg hat nie gelernt, Konflikte zu lösen»

Von Marlène von Arx

22.8.2023

Frances Haugen wurde als Facebook-Whistleblowerin bekannt. Sie sagt über Mark Zuckerberg: «Ich empfinde Empathie für Mark Zuckerberg, denn er musste nie erwachsen werden.»
Frances Haugen wurde als Facebook-Whistleblowerin bekannt. Sie sagt über Mark Zuckerberg: «Ich empfinde Empathie für Mark Zuckerberg, denn er musste nie erwachsen werden.»
Bild: Michael Morgenstern

Frances Haugen erzählt im Interview, warum sie als Whistleblowerin mehr Angst vor Elon Musk als vor Mark Zuckerberg hätte – und was sie nachts nicht schlafen lässt.

Von Marlène von Arx

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Frances Haugen war von 2018 bis 2021 leitende Produktmanagerin bei Meta (ehemals Facebook).
  • Ende 2020 spielte sie dem «Wall Street Journal» Dokumente zu, die belegen, dass der Konzern bewusst Profit über die Sicherheit seiner Nutzer*innen stellt.
  • Inzwischen hat die Whistleblowerin das Buch «Die Wahrheit über Facebook: Warum ich zur Whistleblowerin wurde und was die grösste Social-Media-Plattform so gefährlich macht» veröffentlicht.
  • Im Zoom-Interview aus ihrer Wahlheimat San Juan auf Puerto Rico erzählt die Amerikanerin, weshalb sie an die Öffentlichkeit ging und was ihre Enthüllungen bewirkt haben.

Frances Haugen, Sie beanstanden unter anderem, dass der Algorithmus bei Facebook/Meta Hass fördert und Jugendliche negativ beeinflusst, und dass das Unternehmen nichts dagegen unternimmt, obwohl es sich der Probleme bewusst ist. Wann haben Sie bemerkt, dass bei Facebook nicht alles so läuft, wie es sollte?

Schon früh. Während der Vorwahlen in Iowa 2020 konnte unsere Sicherheitssoftware nicht heraussegmentieren, wie und von wem die Plattform lokal ins Visier genommen wurde. Es hiess, erst die Swing-States würden schützende Unterstützung bekommen. Bei den Vorwahlen wählten ja nur die Demokraten und Trump sei als republikanischer Kandidat bereits gesetzt. Den Verantwortlichen fehlte das politische Verständnis, um die Auswirkungen ihres Entscheids nachvollziehen zu können. Mir wurde klar, hier operierten Leute weit ausserhalb ihrer Fähigkeiten.

Was hat Sie dazu bewegt, mit Ihren Erkenntnissen an die Öffentlichkeit zu treten?

Ich lebte 2020 am Anfang der Pandemie bei meinen Eltern in Iowa und konnte jeweils beim Abendessen bei ihnen Dampf ablassen. Das Problem vieler Whistleblower ist, dass sie sich allein fühlen und niemanden haben, an den sie sich wenden können. Mein Vater sagte Dinge wie: «In meiner Klinik hängen überall Poster mit Telefonnummern, die man anrufen kann, wenn man etwas beobachtet, das die Sicherheit der Öffentlichkeit gefährdet.» Bis Facebook das Integritätsteam auflöste, bekam ich genug Feedback, dass ich nicht verrückt war. Mit dem «Wall Street Journal» zu sprechen, wurde so zur Option.

Bio-Box: Frances Haugen
Frances Haugen, Facebook-Whistleblowerin, spricht bei einem Interview.
Christophe Gateau/dpa

Frances Haugen wurde 1984 in Iowa City geboren. Die Tochter eines Arztes und einer Biologie-Professorin, die später Pfarrerin wurde, studierte Informatik und Elektrotechnik und schloss zudem mit einem MBA der Harvard Business School ab. Bevor sie 2018 zu Facebook kam, arbeitete sie bei den Tech-Giganten Google, Yelp und Pinterest. Bei Facebook war sie leitende Produktmanagerin im «Civic Integrity»-Team, das Fake News und Hetzaussagen auf der Plattform entgegentreten sollte. Der moralische Anspruch und die Praxis bei Facebook standen gemäss Haugen im Widerspruch, weshalb sie nach Auflösung ihres Teams zur Whistleblowerin wurde.

Wie gefährlich war Ihr Schritt aus dem Schatten? Fürchteten Sie sich um Ihre Karriere? Ihr Leben?

Oh ja. Die einen verglichen mich sogar mit Edward Snowden, aber er hat sich gegen den Staat gewendet. Das ist ein Verbrechen. Ich habe lediglich gegen einen unpopulären Konzern aufbegehrt. Theoretisch hätte Facebook dafür sorgen können, dass ich vom Erdboden verschwinde, aber meine Anwälte meinten, das sei schwieriger, wenn ich rechtzeitig in die Öffentlichkeit trete. Dazu lebe ich in Puerto Rico und fühle mich hier sicher. Ich glaube, ich hätte Morddrohungen bekommen, wenn ich statt Mark Zuckerberg Elon Musk angegriffen hätte. Elon Musk hat im Gegensatz zu Mark Zuckerberg sehr leidenschaftliche Fanboys – was sich ändern kann, sollte Zuckerberg den allfälligen Cage Fight gewinnen (lacht).

Was halten Sie heute von Mark Zuckerberg?

Ich empfinde Empathie für Mark Zuckerberg, denn er musste nie erwachsen werden. Solche Menschen haben nicht gelernt, unbequeme Situationen auszuhalten und Konflikte zu lösen. Er kontrolliert Facebook allein, seit er 19 Jahre alt ist. Larry und Sergey bei Google waren wenigstens zwei, die sich absprechen mussten. Das ganze System bei Facebook ist so aufgestellt, dass er happy ist. Die Leute um ihn herum bestätigen ihn darin, dass er ein missverstandenes Genie ist und verdienen sehr viel Geld dabei. Ein neuer CEO müsste sehr tiefgreifend aufräumen. Mark könnte Grossartiges leisten, aber statt mit seinen unlimitierten Ressourcen Malaria aus der Welt zu schaffen, lanciert er Threads.

Wie beurteilen Sie Metas Threads, das als Konkurrenz zu X, vormals Twitter, gedacht ist?

Konkurrenz ist eine gute Sache, aber Threads macht mir Sorgen. Es soll ein «glücklicher Ort» sein? Wer bestimmt denn, was mich glücklich macht? Die Start-ups in Silicon Valley wollen alle das neue TikTok finden: TikTok für Text, TikTok für Audio etc., denn TikTok macht happy. Ein limitierter Anteil an Content wird auf der Plattform hyper-viral. Man erwartet da nicht, von seinen Freunden zu hören, sondern akzeptiert einfach, was man vorgesetzt bekommt. Wenn das kein Mensch, sondern ein Computer auswählt, braucht es Transparenz. Denn wer den Algorithmus kontrolliert, kontrolliert die Konversation.

Und manipuliert sie auch.

Genau. TikTok hat gezeigt, dass es keine kritische Masse eines sozialen Netzwerks mehr braucht, um Leute zu unterhalten. Menschen können einen Austausch von 150 Leuten, 1000 Leuten, einer Uni von 25'000 Leuten noch gut moderieren. Geht es in die Millionen, brauchen wir einen Algorithmus und der hat immer eine Voreingenommenheit. Bei Facebook wollen sie glauben, sie sei nur das neutrale Kommunikationsgefäss. Aber jede Technologie hat eine Ideologie. Wenn man keine gesetzlichen Anforderungen an Transparenz hat, ist man dem Besitzer des Algorithmus ausgeliefert. Wenn wir also in einer Welt leben, in der künstliche Intelligenz unsere Aufmerksamkeit lenkt, sollten wir als Konsument*innen das Recht haben zu wissen, was genau dahintersteckt. Je mehr wir die Wirtschaft und die Gesellschaft in die Hände von Computern geben, desto wichtiger ist es, dass wir Kontrollübersicht haben.

«Die Wahrheit über Facebook»
Frances Haugen
Zvg

Frances Haugen hat ein Buch über ihre Erfahrung als Whistleblowerin geschrieben.

Was hat sich seit Ihren Enthüllungen diesbezüglich verändert?

Der US-Gesundheitsminister hat inzwischen eine Social-Media-Warnung herausgegeben. Solche allgemeinen Warnungen gab es seit 1960 nur gerade 15. Sie gelten als Meilensteine im Gesundheitswesen. Zum Beispiel: Rauchen verursacht Krebs, Sicherheitsgurte retten Leben, etc. Das bedeutet, dass in den nächsten Jahren juristisch einiges passieren wird. In den letzten zwei Jahren wurden bereits legislative Fortschritte gemacht, etwa das Gesetz über digitale Dienste in der EU. Gemäss Facebook kann man ihr Problem nur mit Moderieren und Zensurieren lösen. Dabei geht es um ein ungleiches Machtverhältnis, wie die EU richtig erkannt hat: Facebook weiss, was auf der Plattform läuft, wir wissen es nicht. Da braucht es Transparenz und Verantwortung.

Sie verlangen Transparenz, Regulierung und Aufklärung. Wo muss man sonst noch ansetzen?

Ich möchte an einem Projekt zur Förderung unseres sozialen Kapitals mitarbeiten. Wenn man lernt, mit anderen Menschen umzugehen, gewinnt man soziales Kapital. Das geht aber immer mehr verloren und damit muss sich unsere Gesellschaft auseinandersetzen. Ich bin sehr isoliert aufgewachsen, lebte quasi nur online. Als ich ins College kam, waren meine sozialen Fähigkeiten sehr beschränkt. Im Silicon Valley gibt es jetzt bereits Kurse zur Förderung der sozialen Fähigkeiten. Es wäre doch toll, wenn die älteren Schüler Clubs für jüngere leiten würden. Als ich zwölf war, dachte ich, die 16-Jährigen sind Götter! Wir müssen einen Weg finden, dass unser soziales Kapital nicht mit jeder Generation von Schülern weiter verloren geht.

Das tönt alles recht deprimierend. Gibt es auch Grund zur Hoffnung?

Ich weiss, wir haben eine neue Kommunikationstechnologie erfunden, die alles auf den Kopf stellt. Das tat aber die Erfindung der Druckpresse, des Telegrafen und des Radios auch. Vielleicht wird es noch schlimmer, bevor es besser wird. Aber wir haben noch jedes Mal einen Weg gefunden, mit neuen Technologien zu leben.


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