«Emilia Pérez» jetzt im Kino Ein gefürchteter Drogenboss kann endlich als Frau leben

Valérie Passello

20.8.2024

Karla Sofía Gascón spielt im gleichnamigen Film die Hauptfigur Emilia Pérez.
Karla Sofía Gascón spielt im gleichnamigen Film die Hauptfigur Emilia Pérez.
Bild: WHY NOT PRODUCTIONS/Shanna Besson

«Emilia Pérez» schwankt zwischen Musical, Seifenoper, Telenovela und Thriller. Ein etwas verrückter Wirbelwind, der sich jedoch behaupten kann. Der Regisseur erzählt von seiner umgesetzten Vision.

Valérie Passello

Nach der Vorführung von «Emilia Pérez» ist man, gelinde gesagt, benommen. Es ist schwer, auf Anhieb zu sagen, ob man den Film geliebt oder gehasst hat. Vielleicht liegt das an der Fülle der Themen, die behandelt werden, und an der Vielzahl der Genres. Es ist jedoch ein gutes Zeichen, dass der Zuschauer nie losgelassen wird. In den mehr als zwei Stunden, die der Film dauert, verliert man nicht den Faden – trotz der vielen Abzweigungen, die der Weg nimmt.

Was ist daran verrückt? Genial? Ein bisschen von beidem? Jeder kann sich seine eigene Meinung bilden, indem er sich «Emilia Pérez» ansieht, der bei den Filmfestspielen in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde.

Was war der Funke, der eine solche Explosion von Ideen auslöste? Der Regisseur Jacques Audiard, der am 1. Juli in Lausanne zu Besuch war, erzählt bei blue News:

«Was mir zum ersten Mal in den Sinn kam, war die Geschichte eines Drogenhändlers, der beschliesst, eine Frau zu werden. Das ist ein Kapitel aus einem Roman mit dem Titel ‹Écoute›. Und der Autor des Romans entwickelt die Figur nicht weiter. Es war also wirklich eine Intuition und ich sagte mir: ‹Ich habe Lust, etwas daraus zu machen›.»

Im Zentrum der Geschichte steht der Genrewechsel. Für Jacques Audiard muss die Form des Films «wie seine Heldin sein und sich verändern». So ist auch der Film selbst nicht einem Genre zugeordnet.

«Die ästhetischen Formen der Tragödie finden»

Die Geschichte, die uns Audiard erzählt, kann sicherlich als zeitgenössische Fabel bezeichnet werden: eine Fiktion, die eine allgemeine Wahrheit ausdrückt.

Der Regisseur geht noch weiter: «Ich würde sagen, es ist eine Mythologie, ein Mythos. Ich will nicht spoilern, aber am Ende ist sie trotzdem eine Heilige geworden ...»

Jacques Audiard während der Dreharbeiten zu «Emilia Perez».
Jacques Audiard während der Dreharbeiten zu «Emilia Perez».
Bild: WHY NOT PRODUCTIONS/Shanna Besson

Auch wenn «Emilia Perez» durch das originelle Drehbuch überrascht, ist die Form nicht weniger originell. Themen wie Femizid, Drogenhandel, Bandenkrieg oder Korruption mithilfe eines Musicals zu behandeln, einem Stil, der auf den ersten Blick eher fröhlich ist, musste gewagt werden.

Jacques Audiard ist jedoch nicht der Meinung, dass es sich um einen Kontrapunkt handelt: «Ich habe keine grosse Musical-Kultur, weil ich kein Fan davon bin. Aber die, die mich berührt haben, sind zum Beispiel ‹Cabaret› von Bob Fosse. Es geht um den Aufstieg des Nationalsozialismus – was nicht lustig ist – dennoch singt und tanzt man dazu.»

Spanisch wie eine Partitur

Obwohl er kein Spanisch spricht, hat Jaques Audiard dennoch diese Sprache für seinen Film gewählt: «Das Musical, das weiss man seit langem, funktioniert auf Englisch. Ich habe keine Lust darauf, ich habe Lust auf eine Sprache der Schwellenländer, auf eine Sprache der Armen, auf eine Sprache von Menschen, die Probleme mit Armut und Gewalt haben», erklärt er.

So nutzt er diese Sprache wie eine Partitur. Er erklärt: «Ich habe regelmässig das Bedürfnis, den Dialog der Schauspieler auf etwas Musikalisches zu reduzieren, zu dem ich eine musikalische Beziehung habe. Ich höre mir das, was ausgetauscht wird, wie Musik an und beurteile das, was ich mir angehört habe, nach den Emotionen, die es bei mir ausgelöst hat. Ich kann mich an viele Dinge binden, an Tonfall, an Interpunktion. Und das passt dann zusammen.»

An mehreren Stellen des Films tritt dieser Aspekt auf kraftvolle Weise hervor. Insbesondere, wenn Manitas Rita vorschlägt, für ihn zu arbeiten. Bemerkenswert sind auch die ergreifenden Dialoge, die sich zu sehr gelungenen Duetten entwickeln.

Zum Beispiel wenn Rita versucht, einen Arzt davon zu überzeugen, Manitas zu operieren, oder wenn der Ganove, der zu Emilia Perez geworden ist, Jahre später ihr Kind ins Bett bringt.

Frauen nach vorn, die Welt verändert sich

Der Film wird hauptsächlich von Frauen getragen: Karla Sofía Gascón, Zoe Saldana, Selena Gomez und Adriana Paz spielen starke Rollen. Alle vier Schauspielerinnen wurden bei den Filmfestspielen in Cannes mit dem Preis für den besten weiblichen Darsteller ausgezeichnet.

Karla Sofía Gascón ist die erste Transgender-Frau, die eine solche Auszeichnung erhält. Jacques Audiard sagt: «Wenn es etwas gibt, dessen ich mir ganz sicher bin, dann ist es, dass ich ‹Emilia Pérez› vor zehn Jahren nicht hätte machen können. Ich hätte ihn mir intellektuell nicht vorstellen können.»

Er fährt fort: «Ich habe den Eindruck, dass alles gleichzeitig voranschreitet, die Welt ist in Bewegung, die Welt verändert sich, und ich bin auf der Welle, ich bin all das. Plötzlich sind Themen, von denen man vor zehn Jahren noch dachte, dass sie für einen nicht selbstverständlich sind, heute ganz selbstverständlich. Das Kino ist ein Werkzeug zur Identifikation. Wenn es im Grossen, auf der grossen Leinwand bleiben will, müssen wir Dinge projiziert bekommen, die grösser sind als wir, aber die uns identifizieren.»

Der Regisseur lobt die Jury in Cannes, die die «Intelligenz» hatte, einen Preis für weibliche Darsteller für vier Schauspielerinnen mit multipler Herkunft zu schaffen, was völlig neu ist. Er ist der Meinung, dass diese Anerkennung, die ihn selbst überrascht hat, ein Zeichen für die Entwicklung der Gesellschaft ist.


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