Nachtleben50 Jahre jung und noch immer im Club: Darf man das?
Bruno Bötschi
10.3.2018
Kennt das Ausgehen auch ein Höchstalter? Das ist die Frage, die sich «Bluewin»Redaktor Bruno Bötschi irgendwann stellte.
Momoll, das Nachtleben in Zürich ist in die Jahre gekommen. Ich auch. Nur: Totgesagte leben länger.
«Scheisse, wenn ich einmal so alt bin wie du, will ich auch so gut aussehen!» Es ist kurz nach vier Uhr morgens, und ich stehe auf der Tanzfläche im Club Klaus an der Langstrasse. Eine Frau, wohl noch keine 30, schreit mir ins linke Ohr. Sekunden vorher hatte ich ihr verraten, dass ich vor einigen Monaten 50 geworden bin.
Im schummrigen Licht lässt sich gut schunkeln. Lügen auch. Später, an der Bar, prostet mir ein Mann, halb so alt wie ich, zu und sagt: «Genau mein Typ.» Ich lächle, werde rot und denke: «Schatz, ich könnte dein Vater sein, was willst du von mir?»
Das Leben mit 50 im Club ist, wird behauptet, berechnend einfach: viele Komplimente und irgendwann ein paar Wünsche. Ein Bier, eine Zigi, eine Pille, eine Linie Kokain. Der alte Sack hat sicher Stutz in der Tasche, und ohne Drogen würde er nicht noch um fünf Uhr morgens am Tresen stehen, geschweige denn auf der Tanzfläche seinen Arsch bewegen.
Zur Ehrrettung sei erwähnt: Ich mag Bier nicht, ich rauche nicht, und ich bin keine Drogen-Verteilzentrale. Der junge Mann hat mich übrigens auch nicht nach diesen bewusstseinserweiternden Produkten gefragt, obwohl er mir in dieser Nacht mehrmals schöne Augen gemacht hat und meiner Landeierseele (ich wurde in Mostindien geboren, lebe aber seit über 15 Jahren in Zürich) durchaus schmeichelte.
Das Ende des Feierns
Ich bin 50 und gehe nach wie vor weg. Nur: Darf ich das?
Keine Angst, ich bin beileibe nicht mehr an jedem Wochenende unterwegs, wie es mit 36 durchaus passieren konnte. Das war meine wildeste Ausgehzeit. Das Zürcher Nachtleben wurde damals europaweit geschätzt. Der britische Schauspieler Rupert Everett («Sex ist der Motor meines Lebens») verlustierte sich in der Stadt. Klaus Wowereit, ehemaliger Berliner Bürgermeister, besuchte das Labyrinth. Bum. Bum. Bum. Bum. Alle tanzten, als gäbe es keinen Morgen.
Jesses! Die Zürcher Polizeivorsteherin Esther Maurer sah die Zwinglistadt bereits im Chaos versinken. Und als die «Weltwoche» über das Spider Galaxy berichtete und schrieb, es würden «homosexuelle, bisexuelle, transsexuelle, heterosexuelle und asexuelle Party-Extremisten» aus sämtlichen Schweizer Kantonen anreisen, hatte die SP-Stadträtin keine andere Wahl mehr. Sie wollte es wieder hübsch haben.
Das Leben ist ja zumeist nicht hübsch. Auf den Trottoirs kleben Kaugummis, Männer mit Überbeinen tragen Sandalen, dicke Frauen Leggins, und die Clubs spielen laute Musik.
Es dauerte nicht lange und Frau Maurer schickte die Polizei los: Razzia im Spider! Der Regionalsender TeleZüri wurde zur Berichterstattung aufgeboten, um den Eltern abends in den Nachrichten von Polizeisprecher Mario Cortesi ins Gewissen reden zu lassen: Das ist der traurige Partyalltag, und eure erwachsenen Kindergärtler tanzen da mittendrin. Razzien, laktoseintolerante Spassbremsen und sonstige Trübsalbläser schienen dem Feiern ein Ende bereiten zu wollen: Alltag halt. Rühreier und doppelter Espresso am Sonntagmorgen, statt sich auf die Tanzfläche zu schieben und zum Takt zu stampfen.
Die gute Nachricht: Sie haben es nicht geschafft. Nach einer längeren Pause kommt es jetzt wieder öfter vor, dass ich an verregneten Sonntagen kurz nach Sonnenaufgang nach Hause schlendere.
Mein Antidepressivum
Ich bin also 50 und gehe nach wie vor weg.
Keine Angst, ich gehe nicht wegen der Drogen, nicht wegen des Sex – und es ist auch keine soziale Grenzerfahrung. Ich will einfach tanzen, weil mir das mehr Spass macht als neben schwitzenden Menschen in schlecht belüfteten Fitnesscentern Muskelaufbau zu betreiben.
Musik ist wunderbar, sie trifft meinen Bauch, greift den Brustkorb, schüttelt den Oberkörper durch. In Clubs geht es eben nicht nur um Hemmungslosigkeit – und wenn, dann muss es nicht immer gleich in einer bewusstseinserweiternden Form unter Zuführung von farbigen Pilleli oder weissem Pulver sein.
Natürlich könnte ich es mir am Samstag auch daheim auf dem Sofa gemütlich machen und die neuste Netflix-Serie reinziehen (ich empfehle «Suburra» wärmstens). Ich könnte ins Café Kosmos gehen und ein Buch lesen («Das Leben verstehen» zum Beispiel). Ich könnte ins Opernhaus gehen (vor einiger Zeit etwa sah ich dort «Nussknacker und Mausekönig»). Ich könnte früh schlafen gehen und am Sonntag früh aus den Federn steigen, spazieren gehen (vor drei Wochen war ich auf dem Weissenstein) und mit Freunden in irgendeiner Beiz brunchen und vielleicht, wenn es dann ganz, ganz hoch kommt, ein Gläschen Prosecco schlürfen.
Ich könnte noch viele andere nette Sachen tun – mache ich, wie gesagt, auch ganz oft. Aber ab und zu gehe ich eben tanzen. Mit meinen Freundinnen. Mit meinen Freunden. Weil es uns Spass macht. Weil wir Musik mögen und weil die Nächte im Winter unmöglich lang sind und es draussen nur selten über 10 Grad warm ist. Warum also Antidepressiva schlucken, wenn das Tanzen gegen den Winterblues besser hilft?
Und das Coole: Spielverderberin Maurer hockt schon lange nicht mehr im Stadthaus, und auch sonst scheint sich keine und keiner daran zu stören, dass ein 50-Jähriger manchmal die Nacht zum Tag macht – in Zürich nicht und in Berlin auch nicht. Dort weilte ich kürzlich einige Wochen und ging ab und zu nach Mitternacht ins Bett. Wäre komisch gewesen, wenn nicht, schliesslich ist Berlin nach wie vor die Stadt mit der besten Clubszene weit und breit.
Ich störe nicht
Nach 20 Jahren an der Tür habe er gute Antennen, schreibt Sven Marquardt, Berlins wohl berühmtester Türsteher, in seiner Biografie «Die Nacht ist Leben»: «Wer stört und wer Ärger macht und welche Gäste eine gute Mischung für die Nacht hergeben. Und ja, dafür scannen wir die Leute auch, gehen nach dem äusserlichen Erscheinungsbild.» Erraten: Ich störe nicht, Marquardt liess mich deshalb immer rein in «seinen» Club Berghain.
Man kann sich fragen, ob das Feiern denn nie ein Ende haben wird: Doch, von Montag bis Freitag gehe ich brav arbeiten, bin meistens schon vor 7 Uhr im Büro, trinke keinen Alkohol, gehe jeden Mittwoch ins Englisch und sammle Altpapier und Karton. Aber im letzten Drittel meines Lebens soll auch Spass erlaubt sein. Ich weiss, ich bin definitiv näher am Tod als an der Geburt. Ich gebe zu, dass ich damit in seltenen Momenten ein klitzekleines Problem habe – aber wer hat das nicht? Ich finde es aber überhaupt kein Problem, dass ich hin und wieder eine Nacht tanzend und schwitzend verbringe und nach wie vor keine Bierwampe durch das Leben trage.
Nein, ich behaupte jetzt nicht, 50 sei das neue 30. Ich sage einfach Danke, dass ich das Älterwerden, zumindest bisher, einigermassen okay überstanden habe. Was vielleicht damit zu tun hat, dass ich ziemlich lange ziemlich intensiv Wettkampfsport betrieben habe und nicht wusste, was nach Mitternacht in der Welt geschieht. Mit 20 war ich fast immer der Erste, der nach Hause ging. Oder ich legte mich in eine Ecke auf ein Sofa und wartete schlafend darauf, dass meine Freunde endlich auch den Heimwärtsdrang verspürten.
Heute ist das anders, weil ich weiss: Ausgehen macht glücklich, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen, beschwingt. Also, Leute, geniesst hin und wieder das Leben! Wir werden älter, wir werden sterben. Bis dahin gibt es aber noch einiges zu tun und zu erleben – etwa hin und wieder den Arsch über die Tanzfläche im Klaus zu schieben.
Dieser Text erschien zuerst im «Tages-Anzeiger».
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