Mysteriöse Fälle Lässt Putin sogar Kritikerinnen in München vergiften?

gbi

16.8.2023

Gäste eines Restaurants am Kleinhesseloher See in München. (Symbolbild)
Gäste eines Restaurants am Kleinhesseloher See in München. (Symbolbild)
Bild: Keystone

Wer sich mit dem russischen Regime anlegt, lebt gefährlich – sogar im Ausland. Ein Magazin schildert die mysteriösen Fälle dreier Russinnen, die in drei europäischen Staaten mutmasslich vergiftet wurden.

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Der russische Geheimdienst steht im Verdacht, unliebsame Personen auch im Ausland mit Gift ausschalten zu wollen.
  • Das russische Portal «The Insider» hat eine Aktivistin und zwei Journalistinnen getroffen, die ebenfalls Opfer von Giftanschlägen geworden sein sollen – in Deutschland, Tschechien und Georgien.
  • Alle drei Frauen überlebten, haben aber bis heute mit gesundheitlichen Folgen zu kämpfen. 

Seltsam, denkt sich Natalija Arno, als sie am 2. Mai abends ins Prager Garden Court Hotel zurückkehrt. Die Tür ist unverschlossen. Im Zimmer scheint alles normal, nur eine intensive Parfümwolke hängt in der Luft.

Das Zimmermädchen sei wohl unaufmerksam gewesen, sagt man ihr an der Rezeption. Sie legt sich gegen zwei Uhr nachts schlafen.

Drei Stunden später wird Arno wegen heftiger Zahnschmerzen wach. Auch die Zunge tut ihr weh. Der Schmerz breitet sich in den nächsten Stunden über den Körper aus – in die Brust, unter die Arme und entlang der Wirbelsäule. 

Zurück in Washington, wo sie lebt, lässt sich Arno gleich medizinisch durchchecken. Die Ärtz*innen stellen eine erschreckende Diagnose: Die Russin wurde mit einem Nervengift vergiftet. Mit welcher Substanz genau, ist noch unbekannt.

Natalija Arno ist nicht irgendwer. Sie ist Präsidentin der Stiftung Freies Russland, die Kreml-kritische Aktivist*innen, Journalist*innen, und pro-demokratische Organisationen unterstützt. Dass sie sich damit in Russland keine Freunde macht, liegt auf der Hand. Arno musste wie viele Landsleute aus politischen Gründen ihre Heimat verlassen.

Kreml-Kritiker*innen leben gefährlich

Doch auch im Ausland leben regierungskritische Russ*innen gefährlich. Wellen schlug besonders der Fall des russischen Ex-Agenten Sergej Skripal und seiner Tochter, die 2018 im südenglischen Salisbury nur knapp einen Anschlag überlebten. Zum Einsatz kam Nowitschok, ein Nervengift, das in der Sowjetunion entwickelt worden war. Die britischen Behörden vermuten den russischen Geheimdienst hinter der Tat.

Die russische Plattform «Insider» hat jetzt die Geschichten dreier Frauen dokumentiert, die in Europa vergiftet wurden oder zumindest ein starker Verdacht darauf besteht. Denn das Problem ist: Oft bemerken Opfer zu spät etwas von einer Vergiftung. Bis zur Arztvisite ist es teils schon zu spät, Spuren der toxischen Substanzen nachzuweisen.

Alle drei Frauen überlebten, spüren aber bis heute die Folgen des mutmasslichen Gifts. Das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» hat die Recherche übersetzt und veröffentlicht.

Weil die Faktenlage so schwierig ist, habe die «Insider»-Redaktion ihre Recherche-Ergebnisse mit diversen Experten gecheckt. Darunter seien ein ehemaliger Chemiewaffenspezialist und ein Forscher, der an einem Gift-Forschungs-Programm des russischen Geheimdienstes FSB beteiligt war.

Im Münchner Restaurant vergiftet?

Die Journalistin Jelena Kostjutschenko landete wegen regierungskritischer Berichte auf dem Radar des Kreml. Ihr Chefredaktor warnte sie nach einer Reportage in der Ukraine im April ausdrücklich, sie dürfe keinesfalls nach Moskau zurückkehren, ihr Leben sei in Gefahr.

Kostjutschenko liess sich in Berlin nieder, arbeitete weiterhin für ein die unabhängige russische Onlinezeitung «Meduza». Um ein Visum für eine neuerliche Ukraine-Reise zu bekommen, musste sie nach München reisen, zur ukrainischen Botschaft.

Auf der Heimfahrt nach Berlin wurde auch sie von starken Schmerzen überwältigt, begann heftig zu schwitzen. Den Heimweg schaffte sie nur mit Mühe und Not. Am nächsten Morgen war ihr so schwindlig, dass sie nicht mehr aufstehen konnte. Auch sie klagte laut «Spiegel»-Bericht über Schmerzen in der Wirbelsäule. Hinzu kamen hartnäckige Erschöpfung und Schwindel.

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Dennoch ging Kostjutschenko erst nach zehn Tagen zum Arzt. Ein Bluttest zeigte erhöhte Werte zweier Leberenzyme, im Urin fand sich Blut. Die Ärtz*innen waren besorgt, gingen nach und nach verschiedene Krankheiten durch, von Covid, Hepatitis, Nierenbeckenentzündung. Keine Diagnose bestätigte sich. 

Wer sie wann vergiftet haben könnte, darüber zerbricht sich die Journalistin seither den Kopf. Das Zmittag-Essen in einem Münchner Restaurant, das sie mit einer Freundin besuchte, ist ihr jedenfalls ungeniessbar in Erinnerung geblieben. Sie musste die Hälfte stehen lassen. 

«Als ob man Feuer in den Händen hätte»

Der dritte Fall betrifft ebenfalls eine Journalistin, Irina Bablojan, die für den Radiosender «Echo Moskau» arbeitet und im Oktober 2022 nach Georgien umzog. Auch bei ihr stellten sich urplötzlich rätselhafte Symptome auf, die jenen von Kostjutschenko ähnelten. Ausserdem verfärbten sich ihre Handflächen und ihre Füsse violett und brannten, «als ob man Feuer in den Händen hätte». 

Einen Toxikologen konsultierte die Journalistin zunächst nicht. Ihr sei gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie hätte vergiftet worden sein können.

Die Experten, die die «Meduza»-Redaktion befragt hat, meinen: Die geschilderten Symptome der beiden Journalistinnen passen zu einer Vergiftung. Erwiesen ist dieser Verdacht aber nicht.