Schweizer Auswanderer in Portugal «Wir sind angekommen»

Von Bruno Bötschi

4.3.2023

Vor einem Jahr wanderte blue News Kolumnistin Michelle de Oliveira mit ihrem Mann Renato und den zwei Kindern nach Portugal aus. Ein Gespräch über das Leben weit weg von der alten Heimat, die Familie und das Meer.

Von Bruno Bötschi

Michelle und Renato, ihr seid vor einem Jahr nach Santa Cruz in Portugal auswandert. Wie geht es euch?

Renato: Wir sind immer noch hier und es geht uns grossartig. Die alltäglichen Dinge haben sich inzwischen gut eingependelt, und das gibt uns Raum und Zeit, neue Projekte voranzutreiben. Und immer noch zu geniessen, warum wir nicht zuletzt nach Santa Cruz gekommen sind: Familienzeit, Sonne und Meer.

Michelle: Was, schon ein Jahr? Manchmal kann ich es fast nicht glauben, dass wir schon so lange hier sind. Und gleichzeitig fühle ich mich in Santa Cruz schon komplett zu Hause. Wir sind angekommen.

Heimweh scheint ein Fremdwort für euch zu sein?

Michelle: Lustigerweise hatte ich zum ersten Mal Heimweh, als wir über Weihnachten erstmals wieder in der Schweiz waren. Da wurde mir bewusst, wie schön es ist, meine Freunde und meine Familie so nahe zu haben. Mir war etwas schwer ums Herz, als wir zurückgeflogen sind. Aber kaum sind wir in Santa Cruz angekommen, hat es sich wieder richtig angefühlt.

Für eure beiden Kinder auch?

Renato: Ja, es geht ihnen ähnlich. Ich denke, für sie sind das Wichtigste die Menschen und nicht unbedingt die Orte. Sie geniessen es, in der Schweiz zu sein, aber das grösste Glück für sie ist es, Zeit mit jenen Menschen verbringen zu können, die sie nicht mit nach Portugal nehmen können. Also die Liebe und Aufmerksamkeit vom Grosi und jede Sekunde, die sie mit ihren Cousins und Cousinen spielen können.

Michelle, wann hast du zum ersten Mal realisiert, dass du in Portugal fremd bist?

Michelle: Es gab diesen Moment, als ich mit den Kindern allein im kleinen Strandhäuschen war, das Renatos Onkel gemietet hatte und wir alle gemeinsam nutzten. Jedoch erkannten mich die Betreiber dieser typischen Strandzelte nicht und schickten uns weg. Ich versuchte, mich mit meinem gebrochenen Portugiesisch zu erklären, aber man glaubte mir nicht. In diesem Moment habe ich mich zum ersten Mal als Ausländerin gefühlt.

Wie geht es deinen portugiesischen Sprachkenntnissen heute?

Michelle: Es geht immer besser und ich kann mich mittlerweile gut unterhalten. Aber ich spreche noch nicht so gut wie die Kinder und sie übersetzen gern für mich. Und noch lieber korrigieren sie mich.

Manche Auswanderer lernen die Sprache, engagieren sich und kommen trotzdem nicht richtig an. Wie habt ihr es geschafft, euch so schnell einzuleben in eurer neuen Heimat?

Renato: Uns hat sicher geholfen, dass wir den Ort und die Mentalität bereits kannten. Für mich war es ja auch ein Nach-Hause-kommen. Michelle hatte immer davon geträumt, nach Portugal ans Meer zu ziehen und fühlte sich von Anfang an sehr wohl hier.

Santa Cruz ist bekannt für seine Sandstrände. Was habt ihr sonst noch Schönes entdeckt in dem Ort an der portugiesischen Westküste?

Michelle: Im Dorf selbst hat man schnell alles gesehen. Aber wir erkundeten die Umgebung: etwa den bei Surfern beliebten Ort Ericeira oder das mittelalterliche Städtchen Óbidos. Und natürlich den Dinosaurier-Park in Lourinhã – der Favorit der Kinder.

Im Sommer kommen viele Tourist*innen nach Santa Cruz. Und was läuft im Winter dort?

Michelle: Nichts. Die Wintermonate sind extrem ruhig, viele Restaurants und Hotels sind geschlossen und auf meinen Strandspaziergängen begegne ich ausser den Fischern fast niemandem. Ich mag diese Ruhe und werde mich im Sommer wieder daran gewöhnen müssen, Santa Cruz mit vielen Leuten zu teilen.

Michelle, was war dein ganz persönlicher Höhepunkt der letzten zwölf Monate?

Michelle: Im Herbst sass ich einmal am Strand und plötzlich sind unzählige Delfine vorbeigeschwommen. Ich hatte noch nie in meinem Leben frei lebende Delfine gesehen. Und dann erst noch direkt am Strand vor unserem Haus. Das war sehr beeindruckend und berührend.

Und deiner, Renato?

Renato: Dass wir nach einem Jahr noch immer hier sind, alle Hochs, Tiefs und Herausforderungen als Familie gemeistert haben und uns  – zumindest im Moment – nicht vorstellen könnten, woanders zu leben.

Neues Land, neue Jobs – oder wie finanziert ihr in Portugal euren Lebensunterhalt?

Renato: Tatsächlich ist vieles neu, aber einige Dinge sind gleichgeblieben. Michelle arbeitet unter anderem immer noch aus der Ferne für die Schweiz. Das gibt mir die Möglichkeit, meinen Traum von meiner eigenen Kleidermarke zu verfolgen. Allerdings kein so einfaches Unterfangen.

Eine eigene Kleidermarke? Kannst du schon mehr darüber erzählen?

Renato: Ursprünglich wollte ich Kleidung aus Jeans nach meinen eigenen Designs herstellen lassen. Allerdings betragen die Mindestmengen meist 300 Stück oder mehr – was für ein Start-up schwierig und auch ökologisch wenig sinnvoll ist. Darum wählte ich vorerst einen anderen Weg, kreierte eine Surf-Kollektion und biete meine Designs im nachhaltigeren Print-on-Demand-Verfahren an. Das heisst, die Kleider werden erst produziert, wenn sie jemand in meinem Online-Shop gekauft hat.

Verschickst du die Kleider auch in die Schweiz?

Renato: Ja, die Produkte können europaweit gekauft werden. Noch ist der Shop im Aufbau, aber bald werden mehr Artikel zur Auswahl stehen.

Und du, Michelle, bist also weiterhin als Journalistin tätig – oder hast du noch neue Projekte, denen du dich widmest?

Michelle: Ich habe hier endlich den Mut gefunden, meinen Roman «Wo das Meer am tiefsten ist» zu veröffentlichen, ähnlich wie Renato im Print-on-Demand verfahren. Die Geschichte spielt in Santa Cruz – lustigerweise hatte ich das Buch aber geschrieben, lange bevor wir entschieden hatten, hierherzuziehen. Und nun habe ich ein weiteres Buch in der Pipeline, diesmal aber ein Sachbuch, das im nächsten Jahr erscheinen wird.

In unserem ersten Interview, das wir vor einem Jahr geführt haben, sagtet ihr: «Wir werden immer an zwei Orten zu Hause sein.» Wie lautet euer Fazit nach einem Jahr in Portugal?

Michelle: Dieses Gefühl wird wohl für immer bleiben. Aber wie Renato gesagt hat: Im Moment sind wir sehr glücklich hier und möchten nicht weg.


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