Aussenpolitischer Ausblick Der Europa-Knorz bleibt

Von Gil Bieler

29.12.2021

Unüberbrückbare Differenzen: Bundespräsident Guy Parmelin und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrem Treffen im April in Brüssel.
Unüberbrückbare Differenzen: Bundespräsident Guy Parmelin und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrem Treffen im April in Brüssel.
Bild: Keystone/EPA

Kann die Schweiz 2022 endlich eine Lösung im Streit mit der EU erzielen? Der Zeitpunkt sei günstig, finden die einen in Bundesbern – kein Grund zur Hetze, sagen die anderen. Sicher ist nur: Der Weg wird steinig. 

Von Gil Bieler

Man braucht nicht zweimal zu fragen, wo in den nächsten Jahren die aussenpolitischen Prioritäten der Schweiz liegen müssen – und auch nicht, wer jetzt am Zug ist: «Der Bundesrat muss einen Weg aufzeigen, wie wir im Europa-Dossier weiterkommen», formuliert Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter (Mitte/BL) die Erwartungshaltung unter den Aussenpolitiker*innen in Bern. «Ansonsten erodiert der bilaterale Weg.»

Das Verhältnis zu Brüssel ist der grosse aussenpolitische Knorz dieser Legislatur. Und seit dem 26. Mai 2021 ist völlig offen, wie es weitergeht. An jenem Tag hat der Bundesrat die Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen unvermittelt abgebrochen. Ein Schritt, der sowohl im Inland wie auch in Brüssel Irritation ausgelöst hat. Die EU spricht gar von einer «Vertrauenskrise».

«An der Problemstellung hat sich nichts verändert.»

Fabian Molina, SP-ZH, spricht an der Herbstsession der Eidgenoessischen Raete, am Dienstag, 14. September 2021 im Nationalrat in Bern. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)

Fabian Molina

Nationalrat (SP/ZH)

Ein halbes Jahr ist vergangen. Mittlerweile gibt es zwar wieder Gespräche auf höchster Ebene, aber nichts Handfestes. «An der Problemstellung hat sich nichts verändert», stellt SP-Nationalrat Fabian Molina fest. «Wir müssen die künftigen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU definieren. Finden wir keine Antworten auf diese Grundsatzfragen, verlieren wir unseren Zugang zum EU-Binnenmarkt.»

Das Milliarden-Franken-Zeichen

Dass guter Rat teuer ist, zeigte sich in der Herbstsession. Aussenminister Ignazio Cassis appellierte an die Parlamentarier*innen: Die Schweiz müsse sich als verlässliche Partnerin erweisen und die zugesagte Kohäsionsmilliarde freigeben. Ein 1,3 Milliarden Franken teures Zeichen des guten Willens. Nach kontroversen Diskussionen erteilten sowohl National- als auch Ständerat grünes Licht.

Halbzeit in Bern

National- und Ständerat haben die Hälfte der Legislatur 2019–2023 durch. Was ist erreicht worden, was noch nicht? In einer Artikelserie zieht blue News Zwischenbilanz. Dieser Text erschien zum ersten Mal am 18. Dezember 2021.

Der ersehnte Durchbruch? Nein. Brüssel war das kaum ein Wort der Anerkennung wert. Denn mehr als Geld will die EU von der Schweiz Klarheit, wie es in den grossen Streitfragen weitergeht: der Übernahme von EU-Recht und der Schlichtung in Streitfällen. Also genau jenen Knackpunkten, die ein Rahmenabkommen hätte regeln sollen.

Darauf pochte EU-Vizekommissar Maros Sefcovic nach seinem ersten Amtstreffen mit Ignazio Cassis im November. Auch über regelmässige Kohäsionsbeiträge müsse man reden, so der Slowake.

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Kein Rahmenabkommen mit der EU – ein guter Entscheid?

Vereinbart ist eine nächste Gesprächsrunde im Januar 2022 am WEF in Davos. Damit endet der Konsens aber bereits. Während der EU-Vertreter vom Bundesrat einen Fahrplan für die Lösung der Streitfragen erwartet, bleibt Cassis vage: Man dürfe sich nicht unter Druck setzen lassen.

Dieser Meinung ist auch Franz Grüter (SVP/LU), Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats: «Der Bundesrat muss in sich gehen und überlegen: Wo gibt es Handlungsspielraum, um der EU entgegenzukommen, wo nicht?» Grüter kritisiert, dass Brüssel weiterhin ein Gesamtpaket anstrebe und nicht über einzelne Themen verhandeln möchte. «Dann wären wir ja wieder beim Rahmenabkommen.»

«Als selbstbestimmtes Land können wir nicht automatisch fremdes Recht übernehmen.»

Nationalrat Franz Grueter, SVP-LU, spricht waehrend einer SVP Medienkonferenz ueber das Thema

Franz Grüter

Nationalrat (SVP/LU)

Ohnehin sei klar, dass die Schweiz nicht allen Forderungen gerecht werden könne. «Als selbstbestimmtes Land können wir nicht automatisch fremdes Recht übernehmen. Das würde unseren demokratischen Rechten zuwiderlaufen, und das muss man der EU klarmachen.»

Dieser Prozess dürfte lange dauern, die Verhandlungen schwierig werden. «Ich weiss nicht, ob das gelingt. Aber eine gegenseitige Annäherung ist die Lösung, die ich als realistisch erachte.» Von Brüssel erwartet Grüter dabei wenig Kompromissbereitschaft: «Das Problem ist, dass die EU mit Grossbritannien gerade ähnliche Diskussionen führt. Sie wird sich nicht gross bewegen wollen.»

Das kommende Jahr als «ideales Zeitfenster»

Das glaubt auch Andrea Caroni (FDP/AR), ebenfalls Mitglied der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats: «Kurzfristig wird es kaum zu einem Durchbruch kommen.»

Handlungsmöglichkeiten sieht er gleichwohl: Die Schweiz müsse vermehrt nach eigenständigen Lösungsansätzen suchen, wie im Streit um die Börsenäquivalenz. Dort erliess der Bundesrat Schutzmassnahmen für die Schweizer Börse, nachdem die EU ihr die Gleichwertigkeit aberkannt hatte.

Wo genau man ansetze, sei gar nicht entscheidend, findet Elisabeth Schneider-Schneiter: «Die Schweiz muss jetzt sagen, was sie will. Es ist am Bundesrat, einen Vorschlag zu machen.» Die Zeit dränge: «2022 ist das ideale Zeitfenster», so die Mitte-Nationalrätin. 2023 stehen Eidgenössische Wahlen in der Schweiz an, 2024 die Europawahl und die EU-Kommission wird neu besetzt. 

«Die Schweiz muss jetzt sagen, was sie will.»

Nationalraetin Elisabeth Schneider-Schneiter, CVP-BL, spricht waehrend einer Medienkonferenz ueber das Thema Ueberparteiliches Komitee «NEIN zur Kuendigungsinitiative», am Dienstag, 30. Juni 2020 in der BernExpo in Bern. (KEYSTONE/Anthony Anex)

Elisabeth Schneider-Schneiter

Nationalrätin (Mitte/BS)

Für Schneider-Schneiter sind verschiedene Lösungen denkbar. Statt eines Rahmenabkommens sollten in jedem Marktzugangsabkommen auch gleich die institutionellen Fragen geregelt werden. So müsste etwa in einem Stromabkommen gleich festgelegt sein, wie Streitfragen geklärt werden – wobei die zuständigen Institutionen immer dieselben sein sollten. 

Nebst dem Strommarkt brauche es auch für Forschung, Gesundheitswesen und Roaming solche Abkommen. Daraus liesse sich ein Bilaterale-III-Paket schnüren. «Inhaltlich wäre das nichts völlig Neues», räumt die Baselbieterin ein. «Der Vorteil dieser Lösung wäre: Das Materielle steht im Vordergrund, nicht die institutionellen Fragen.»

«Der Bundesrat hat wahnsinnig schlechte Karten»

Dass Brüssel sich auf dieses Unterfangen einlassen wird, bezweifelt SP-Nationalrat Molina. «Die EU hat immer gesagt, eine Fall-zu-Fall-Lösung werde es nicht geben.» Und auch für die Schweiz wäre eine umfassende Lösung besser. 

Das Problem: Die Schweiz habe ihre Verhandlungsposition massiv geschwächt, findet Molina: «Der Bundesrat hat eine wahnsinnig schlechte Hand. Er hat alle Karten auf den Tisch gelegt, ohne etwas dafür zu erhalten.» Nun brauche es eine komplett neue Verhandlungsstrategie, um überhaupt noch etwas herauszuholen.

«Es kommt schon vor, dass man unverhofft gewinnt»

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15.12.2021

Besonders im Fokus steht dabei Ignazio Cassis. Der Aussenminister amtet 2022 als Bundespräsident – und liess die Frage, was er im Europa-Dossier erreichen wolle, an einer Medienkonferenz offen: «Wenn ich Harry Potter wäre, könnte ich eine Antwort darauf geben.» 

Ganz anders getönt hatte das noch 2017, als der Tessiner das Aussendepartement übernahm: Sein Versprechen lautete damals, er werde in den Verhandlungen mit der EU den «Reset-Button» drücken.

Handfeste Folgen ...

Die diplomatische Hängepartie hat bereits heute handfeste Folgen. Die Schweiz hat seit dem Sommer keinen vollen Zugang zu Forschungsprogrammen wie Horizon Europe und Erasmus plus mehr. 

Und die hiesige Medizintechnik-Branche hat den hürdenfreien Zugang zum EU-Markt im Mai verloren. Wollen die betroffenen Unternehmen ihre Produkte auf den EU-Markt bringen, geht das nur mit einem Mehraufwand.

Als Nächstes könnte es die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM) treffen, 2025 auch die Pharmabranche. «Das schenkt dann ein», sagt Schneider-Schneiter.

... und noch mehr Baustellen

Auch wenn die Beziehungen zu Brüssel das dominante Thema der nächsten Jahre sein werden: Es stehen noch weitere aussenpolitisch bedeutende Themen an. Eines, das im Gespräch mit den Aussenpolitiker*innen mehrfach genannt wird, ist die Kandidatur um einen Sitz im UNO-Sicherheitsrat ab 2023.

Franz Grüter sieht dieses Vorhaben kritisch. «Im UNO-Sicherheitsrat wird über Krieg und Frieden entschieden.» Die Schweiz würde ihre Rolle in der Aussenpolitik schwächen, befürchtet er.

«Andere neutrale Länder haben diesen Spagat auch hinbekommen.»

Laut FDP-Ständerat Andrea Caroni (AR) ist nur eine Wahl der Richter über das Parlament eine demokratisch legitimierte Wahl. (Archivbild)

Andrea Caroni

Ständerat (AR/FDP)

FDP-Ständerat Caroni sieht darin kein Problem: «Andere neutrale Länder haben diesen Spagat auch hinbekommen und dank ihres Sitzes im Sicherheitsrat an Profil gewonnen. Im schlimmsten Fall enthält man sich bei einer heiklen Abstimmung der Stimme.» Das könne aber natürlich nur der «Notausgang» sein.

Aber die grösste Aufgabe bleibe eben doch das Europa-Dossier – «mit Abstand», sagt Schneider-Schneiter.