Klima-Ziele Umweltpolitiker mögen nicht auf den Bundesrat warten

Von Lia Pescatore

29.12.2021

«Lifere nid Lafere»: Klimaaktivisten fordern an einer Demo auf dem Bundesplatz Ende Oktober dieses Jahres die Politiker*innen zum Handeln auf. 
«Lifere nid Lafere»: Klimaaktivisten fordern an einer Demo auf dem Bundesplatz Ende Oktober dieses Jahres die Politiker*innen zum Handeln auf. 
Bild: Keystone

Das Scheitern des CO2-Gesetzes bildet eine Zäsur in der Klimapolitik. Umweltpolitiker verfolgen im Kampf gegen den Klimawandel neu mehrere Ansätze gleichzeitig – die Reform des bestehenden Gesetzes eher nicht.

Von Lia Pescatore

39 Tage lang harrte Guillermo Fernandez im Hungerstreik aus – sein Ziel: die Ausrufung des Klimanotstandes und Netto-Null bis 2030. Ansonsten sei die Zukunft seiner Kinder in Gefahr, sagte der dreifache Vater in einem Video. «Wir steuern auf die Hölle zu, und wenn wir nicht umgehend etwas unternehmen, werden unsere Kinder dort leben.»

Halbzeit in Bern

National- und Ständerat haben die Hälfte der Legislatur 2019–2023 durch. Was ist erreicht worden, was noch nicht? In einer Artikelserie zieht blue News Zwischenbilanz. Dieser Text erschien zum ersten Mal am 12. Dezember 2021.

Seinen Appell richtet er vor allem an die Politiker*innen im Bundeshaus. Zu träge ist die Klimapolitik aus Fernandez’ Sicht. Und er ist mit dieser Meinung nicht allein: Auch andere Klimaaktivist*innen versuchten in den vergangenen Monaten, die Politik mit extremen Aktionen zum Handeln zu bewegen.

Aktivist Guillermo Fernandez am 4. November auf dem Bundesplatz. 
Aktivist Guillermo Fernandez am 4. November auf dem Bundesplatz. 
Bild: Keystone

Ernüchternde Bilanz nach zwei Jahren Legislatur

Diskutiert wurde das Thema Klimawandel im Bundeshaus in den letzten zwei Jahren nicht zu wenig, ist doch der Klimaschutz für die laufende Legislatur als eines der grossen Ziele angesetzt – die Bilanz nach der ersten Legislatur-Hälfte fällt jedoch ernüchternd aus: Das CO2-Gesetz wurde an der Urne versenkt, die Agrarpolitik 22+ vom Ständerat sistiert.

Dem Parlament blieb diese Session nichts anderes übrig, als die auslaufenden Punkte des seit 2013 bestehenden CO2-Gesetz bis 2024 zu verlängern. Diese Verlängerung sei zwar essenziell, sagt Grüne-Präsident Balthasar Glättli, aber auch nur «das Minimum vom Minimum». Für seine Partei sei das Scheitern des neuen Gesetzes ein grosser Rückschlag gewesen, «wir wollten auf diesem Gesetz weiter aufbauen, nun brauchen wir neue Perspektiven».

«Wir haben Jahre verloren, die Probleme sind geblieben.»

Roger Nordmann

Nationalrat (SP/VS)

Auch Umweltpolitiker anderer Parteien äussern Ernüchterung: Nur noch «ein Scherbenhaufen» sei von der Schweizer Klimapolitik übrig, sagt Nationalrat Roger Nordmann (SP/VS). «Wir haben Jahre verloren, die Probleme sind geblieben.»

FDP-Nationalrat Matthias Jauslin (AG) räumt Fehler ein: Die Befürworter*innen hätten das CO2-Gesetz nicht verständlich erklären können. Doch auch der Abstimmungszeitpunkt – gleichzeitig mit den beiden Agrar-Initiativen – sei unvorteilhaft gewesen. «Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass die Bevölkerung den CO2-Ausstoss verringern will.» Nun müsse der Bundesrat eine mehrheitsfähige Vorlage aufgleisen.

Umwelt-Kommission setzt auf mehrere Pfeiler

Doch nur auf diese Vorlage zu setzen, das will niemand. Die zuständigen Kommissionen von Ständerat und Nationalrat planen einen indirekten Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative einzubringen, um so selbst wieder das Ruder in die Hand zu nehmen. Die Gletscher-Initiative will das Netto-Null-Ziel bis 2050 in der Verfassung verankern.

«Der indirekte Gegenvorschlag wäre der pragmatischste und konkreteste Weg.»

Balthasar Glättli

Grüne-Präsident

Der Gegenvorschlag auf Gesetzesbene sei der rascheste Weg, nicht nur Ziele, sondern auch Massnahmen festzulegen, sagt Nordmann. Das sehen auch Glättli und Jauslin so: Der Gegenvorschlag sei eine gute Option, um die «unumstrittensten Massnahmen» möglichst schnell «auf die Schiene» zu bringen, so Jauslin.

Glättli hofft, dass bis spätestens Ende 2022 ein bereinigter Entwurf dieses Vorschlags vorliege. «Es wäre der pragmatischste und konkreteste Weg, um den grünen Wahlerfolg in weitere Fortschritte beim Klimaschutz ummünzen zu können.»

SP und Grüne wollen für Initiative zusammenspannen

SP und Grüne planen zudem je eine Volksinitiative, die beide die Einführung eines Klimafonds zur Unterstützung von klimafreundlichen Investitionen vorsehen. Man habe Lehren aus der Abstimmung gezogen, sagt Nordmann: Die Steuerung allein über Lenkungsmassnahmen sei nicht förderlich. «Die Menschen fühlen sich dadurch bestraft», sagt er, dabei wollten sie vielmehr, dass man ihnen helfe.

Laut Glättli sind SP und Grüne bereits im Gespräch, die beiden Initiativen zu vereinen. «Wir wollen konstruktiv zusammenarbeiten», sagt Glättli, sie  würden zum Grossteil bereits dasselbe Ziel verfolgen. Während die SP sich jedoch vor allem auf die Energie fokussiere, wolle seine Partei auch die internationale Klimafinanzierung sowie die Biodiversität einbeziehen.

«Wir dürfen unseren Wohlstand nicht gefährden.»

Walter Wobmann

Nationalrat (SVP/SO)

Weder mit den Initiativen noch mit dem geplanten Gegenvorschlag etwas anfangen kann hingegen Walter Wobmann (SVP/SO). Er hält fest, dass zuerst eine Grundsatzfrage zu klären sei: «Was müssen wir überhaupt machen?» Zwar sei es das Ziel, die Umweltbelastung möglichst zu reduzieren, aber dabei dürfe man nicht «unser Wirtschaftssystem infrage stellen und unseren Wohlstand gefährden», so Wobmann.

Er sei für den pragmatischen Weg: keine Verbote, sondern Offenheit gegenüber der Forschung und neuen Technologien, nicht nur bei erneuerbaren Energien, sondern auch der Kernkraft. «Wir dürfen unsere Augen vor diesen Entwicklungen nicht verschliessen.»

Was geht vor: Klimapolitik oder Energiesicherheit?

Wobmann trifft damit einen wunden Punkt: Mit der Energiestrategie 2050, die das Volk bereits 2017 abgesegnet hat, sollte erneuerbare Energien zum Durchbruch verholfen werden – doch die Entwicklung verläuft harzig.

Dieses Jahr musste sich die Umwelt- und Energiekommission nicht nur mit dem Scheitern des CO2-Gesetzes befassen, sondern auch mit den drohenden Stromlücken. Laut einer Prognose der Elcom könnten ab dem Jahr 2025 im Winter Stromlücken entstehen für den Fall, dass mehrere AKW gleichzeitig ausfällen würden.

Wobmann ist darum überzeugt, dass in 20 Jahren wieder über den Bau von AKW gesprochen werde, «es wird nicht ohne gehen». Mitte-Ständerat Pirmin Bischof (SO) betont: «Wir können diese Lücke mit den erneuerbaren Energien nicht ausfüllen», deren Ausbau dauere wegen Verfahrensverzögerungen zu lange. Die Verfahren müssten massiv beschleunigt werden.



Dass Bundesrätin Simonetta Sommaruga bereits als Notfallszenario den Einsatz von Gaskraftwerken plane, hält Bischof aus Klimaüberlegungen für bedenklich, «aber schlussendlich geht die Energiesicherheit vor».

«Absurde» Diskussion um neue Atomkraftwerke

Glättli hingegen sieht einen Weg, um die Lücken mit Wasserenergie zu stopfen: Ein Zuschlag soll Betreiber von Stauprojekten dazu motivieren, Kapazitäten für den Winter aufzusparen. Dafür müssten sie wohl lukrative Deals mit dem Ausland ausschlagen, «darum muss das auch entschädigt werden», sagt der Grünen-Parteichef.

«Der Bundesrat tut gut daran, wenn er die Koordination von Energie-, Klima- und Standortpolitik im Auge behaltet.»

Matthias Jauslin

Nationalrat (FDP/AG)

Die Diskussion um neue AKW bezeichnet er als absurd, «die grösste Unsicherheit entsteht gerade durch unsere Abhängigkeit vom Klumpenrisiko der Gross-Kraftwerke.» Für ihn führt der Weg darum klar weg von den fossilen Energiequellen, hin zu erneuerbaren.

Für Matthias Jauslin liegt der Handlungsbedarf kurzfristig jedoch woanders: «Zur Lösung des Energieproblems ist am vordringlichsten, dass wir bis 2025 wieder im europäischen Stromverbund aktiv mitreden können. Ansonsten wird unser Netz instabil.» Der Bundesrat tue gut daran, wenn er die Koordination von Energie-, Klima- und Standortpolitik im Auge behalte.

Die Klimapolitik hat mitten in der Corona-Pandemie und der Eiszeit, die zwischen der Schweiz und der EU herrscht, einen schweren Stand.

Aktivist feiert einen kleinen Sieg

Aktivist Guillermo Fernandez hat seinen Hungerstreik trotzdem beendet – eine seine Forderungen wurde im Parlament umgesetzt: Nationalratspräsidentin Irène Kälin hat angekündigt, dass im Mai ein Austausch zwischen Parlamentarier und Wissenschaftlern geplant sei. Zwar sei das Treffen schon vor Fernandez’ Aktion geplant gewesen, einzig die öffentliche Ankündigung sei seinetwegen vorverschoben worden.

Für Fernandez war es trotzdem ein Sieg, genüsslich verzehrte er am Donnerstag kurz nach der Ankündigung eine Banane.

Vom Treffen im Mai erhofft er sich eines: Es soll aufzeigen, welche Parlamentarier*innen die Voten der Wissenschaftler*innen auch ernst nehmen. Dann müsse die Bevölkerung Konsequenzen ziehen: Wer Bescheid wisse und trotzdem nicht handle, «der hat keine Legitimation, um über unsere Zukunft zu entscheiden und ganz speziell die Zukunft unserer Kinder», findet er.