26 Jahre nach Bjarne Riis gewinnt Jonas Vingegaard als zweiter Däne die Tour de France. Wer Tadej Pogacar so souverän im Schach hält, ist zweifelsohne der richtige Sieger. Das 25-jährige Leichtgewicht aus Jütland überzeugt auch charakterlich.
Es gab diese eine Szene nach dem Zeitfahren am vorletzten Tour-Tag. Jonas Vingegaard kommt als Zweiter ins Ziel, dort empfängt ihn Wout van Aert, der Tagessieger und Teamkollege bei Jumbo-Visma, euphorisch und fällt ihm in die Arme. Kurz darauf ist Vingegaard bei seiner Frau Trine Hansen, in den Armen hält er die kleine Tochter Frida.
Dass seine Liebsten bei ihm waren in diesem Moment, in dem sein Tour-Triumph de facto Tatsache wurde, sei ihm wichtig gewesen, sagt Vingegaard. «Ich bin ein Familienmensch. Ein Familienmensch, der die Zeit am liebsten mit seinen Frauen zu Hause verbringt. Sie sind meine Stützen.»
Auch als Radprofi ist Vingegaard kein verbissener Einzelgänger, sondern einer, der sich im Bedarfsfall auch in den Dienst der Mannschaft stellt, wie er in der Vergangenheit bewiesen hat. Aber jetzt ist aus dem Helfer ein Leader geworden. Ein sensibler Leader, den das euphorische Heim-Publikum beim Tour-Auftakt in Dänemark, dem Grand Départ, zu Tränen rührte.
Pavés überstanden, Alpen dominiert
Der neue Leader von Jumbo-Visma behauptete sich bei seiner erst zweiten Tour-Teilnahme recht überraschend und sehr deutlich gegen Tadej Pogacar, den Triumphator der letzten beiden Jahre und vermeintlichen Dominator der Gegenwart, der nach zwei Etappensiegen in Folge in der ersten Woche bereits mit dem «Kannibalen» Eddy Merckx verglichen wurde.
Die einzigen bangen Momente habe er auf den Pavés der 5. Etappe gehabt, sagt Vingegaard – dort, wo sich die Hoffnungen von Teamkollege Primoz Roglic durch einen Sturz zerschlugen. «Ich hatte Probleme mit der Kette und musste im ganzen Chaos das Rad wechseln – der reinste Stress.» Ansonsten sei alles «wirklich gut gelaufen» für ihn.
Das Pendel schlug in der 11. Etappe auf die Seite des vermeintlichen Aussenseiters um. In dieser Alpen-Etappe hoch auf den Col du Granon oberhalb von Albertville brach Pogacar am letzten Anstieg ein. Vingegaard holte fast drei Minuten heraus und profitierte dabei von der Stärke seines Teams, das den auf sich alleine gestellten Pogacar den ganzen Tag über mit einer Vielzahl an Attacken zermürbte.
Mehr Freund als Feind
Dabei ist die Rivalität zwischen den beiden freundschaftlich geprägt. Als Vingegaard seinem Widersacher in der 11. Etappe fast drei Minuten abnahm und damit den Grundstein zum Tour-Triumph legte, gratulierte ihm Pogacar im Ziel aufrichtig und ohne Anflug von Missgunst. Auch im weiteren Verlauf umarmten sich Vingegaard und Pogacar nach Etappenankünften immer wieder. «Der Bessere hat gewonnen. Wir haben gesehen, wie stark Jonas ist – viel stärker als im letzten Jahr. Es ist ein harter Gegner und ein wirklich netter Typ», anerkannte Pogacar.
Vingegaard agierte auch im Stile eines Sportsmanns, als Pogacar in der 18. Etappe in einer Abfahrt stürzte und der Däne auf seinen Konkurrenten wartete. «Wir verstehen uns gut, respektieren uns gegenseitig. Tadej ist ein super Typ, sehr sympathisch, einer der Besten der Welt.» So klingt es in den Worten von Vingegaard.
Bei seiner Premiere vor einem Jahr wurde Vingegaard Gesamtzweiter hinter Pogacar. Er sprang damals in die Bresche, nachdem Primoz Roglic schwer gestürzt war. 2022 war das interne Duell zunächst offen, doch wieder entpuppte sich der schmächtige Flachländer aus Dänemark als der grössere Trumpf im Team.
Spätzünder aus der Fischfabrik
Vingegaard ist der erste dänische Tour-de-France-Sieger seit Bjarne Riis 1996. Seine Fortschritte in den letzten Jahren sind beachtlich. Tadej Pogacar gewann seine erste Tour 2020 mit 21 Jahren. Im selben Alter arbeitete der Spätzünder Vingegaard morgens noch in einer Fischfabrik an der Westküste und stieg erst nachmittags aufs Rad. Pogacar fuhr schon in den Nachwuchsrennen allen davon, Vingegaard radelte da noch unter dem Radar. Erst als Jumbo-Visma 2018 vom dänischem Amateur-Team auf ihn aufmerksam gemacht wurde und Zugang zu seinen Trainingsdaten erhielt, nahm die Karriere Fahrt auf.
Natürlich sorgen die rasanten Fortschritte auch für Skepsis. Die seit den Skandalen in den 90er-Jahren standardmässige Frage nach Doping moderiert der 1,75 m grosse und 60 kg leichte Vingegaard indes gekonnt ab: «Wir sind total sauber. Jeder von uns. Ich kann für das ganze Team sprechen. Niemand von uns nimmt etwas Verbotenes.» Die Dominanz seines Teams fusse auf dem seriösen Training, so Vingegaard. «Wir sind aufgrund unserer Vorbereitung so gut. Wir haben Höhentrainingslager weiterentwickelt. Wir schauen auf das Material, die Ernährung, das Training. Das Team gehört in diesen Punkten zu den besten. Deshalb muss man uns glauben.»
jos, sda