Ende März 1998 wurde der Thurgauer Stefan Angehrn vom führenden amerikanischen Boxmagazin «The Ring» in den Top Ten seiner unabhängigen Weltrangliste im Cruisergewicht klassiert.
Seinerzeit war es ein persönlicher Karriere-Ritterschlag für den heute 55-jährigen Angehrn. Eine solche Nominierung ist mit der Nomination eines Schweizer Fussballers in eine Weltauswahl vergleichbar. Aktuelle Faustkämpfer aus der Schweiz oder mit entsprechender Lizenz können von einer derartigen Anerkennung ausserhalb der Landesgrenzen nur träumen.
Doch Stefan Angehrns vor zwei Jahrzehnten beendete Karriere als Profiboxer lohnte sich trotz dieser prestigeträchtigen Resonanz wirtschaftlich gesehen nicht. Im Gegenteil: 434'000 Franken betrug die persönliche Schuldenlast zum Karriere-Ende im Frühjahr 2000.
Für den Box-Unternehmer in eigener Sache blieb im knallharten Faustkampf-Business ein grosser Reibach bloss Wunschdenken. «Doch es waren die Begegnungen und die Erlebnisse, die zählten», betont Angehrn rückblickend gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. «Hätte ich auf die anderen gehört, hätte ich mir nie etwas zutrauen dürfen.» Angehrn ignorierte die Stimmen und rappelte sich auch nach wiederholten Rückschlägen wieder auf.
Er boxte sich zunächst aus der Anonymität eines minimalistischen Boxkellers in Zürich-Oerlikon hoch. Trainierte später im legendären Gleason's Gym in New York. Oder feilte aus Eigeninitiative heraus an seinen Fähigkeiten im damaligen deutschen Top-Profibox-Stall Universum.
In Hamburg trainierten vor gut zwei Jahrzehnten zahlreiche Weltmeister und Top-Könner ihres Fachs, unter ihnen der spätere ukrainische Langzeit-Schwergewichts-Weltmeister Wladimir Klitschko. Der damals junge Twen Klitschko kutschierte mit seinem schwarzen Mercedes manchmal so rasant durch Hamburgs Strassen, dass Mitfahrer kreidebleich dem Auto entstiegen. Zu Wladimir Klitschko wie zu anderen Weggefährten hat Angehrn den Kontakt bis heute gehalten.
Parteiischer Ringrichter
Im Seilquadrat boxte Angehrn beispielsweise in St. Petersburg in Russland oder in einer Stierkampf-Arena in Costa Rica. Angehrns Sternstunde, die ihm im Nachklang die Klassierung im «The Ring» einbrachte, schlug am 13. Dezember 1997 in Düsseldorf gegen Torsten May, den Halbschwergewichts-Olympiasieger von 1992.
Angehrn stand damals nach zwei Punktniederlagen in WM-Kämpfen gegen den damaligen deutschen WBO-Weltmeister Ralf Rocchigiani, darunter einer knapp verlorenen Revanche im Zürcher Hallenstadion, am Scheideweg. Von Mays Matchmaking war Angehrn als nicht allzu gefährlicher Aufbaugegner angesehen und deshalb für den Kampf um den Interkontintental-Titel nach IBF-Version verpflichtet worden. Angehrn wusste, dass es seine letzte grosse Chance im Rampenlicht war.
«Und ich ging nach einer unglaublich fokussierten und gelungenen Vorbereitung mit den besten physischen Werten, die ich je hatte, für einmal wirklich ohne Selbstzweifel in einen Kampf.» Die ersten drei Runden verliefen dann aber schlecht. May diktierte das Geschehen. Schliesslich erlitt Angehrn noch einen Bluterguss unter dem Auge.
«Der Ringrichter wies dann Torsten May explizit an, mir weiter aufs Auge zu schlagen. Ich wurde so wütend, dass sich der Schiedsrichter nicht unparteiisch verhielt, dass ich Torsten May mit einer Geraden mitten ins Gesicht erstmals voll erwischte. Dadurch realisierte ich, dass Torsten gegen den einfachsten Schlag im Boxen kein Rezept hatte.»
Plan der Zermürbung
Der Plan vor dem Fight war gewesen, Torsten May psychisch zu zermürben, dem deutschen 1,93-m-Giganten das Trauma seiner ersten WM-Niederlage gegen Adolpho Washington in Erinnerung zu rufen. Angehrn: «Ab der fünften Runde traf ich Torsten immer mitten ins Gesicht. In der neunten Runde traf ich ihn schliesslich so hart, dass er einfach aufgab. Mein Plan war aufgegangen.»
Angehrn setzte sich also als klarer Underdog entgegen aller Unkenrufe durch, die ihn vorab im eigenen Land eine Karriere lang begleiteten. Es war ein Erfolg, für den sich sein ganzer Aufwand, sein ganzes Investment letztlich lohnte.
Für Angehrn kann dieser Triumph bis heute als persönliche Genugtuung betrachtet werden. Auch wenn ihm die sportliche Nachhaltigkeit und allfällige Krönung in Form eines WM-Kampfes gegen den damals durchaus schlagbar gewesenen, kurzzeitigen IBF-Weltmeister Imamu Mayfield aus den USA versagt geblieben war.