Mit Verspätung startet Marc Hirschi in der letzten Woche bei der Katalonien-Rundfahrt in die neue Saison und kann nicht mit den Schnellsten mithalten. Die Entwicklung beim neuen Team will Radsport-Experte Henri Gammenthaler nicht gefallen.
Marc Hirschi hat intensive Monate hinter sich. Erst der späte und völlig überraschende Wechsel zu UAE Emirates im Januar, dann die wilden Spekulationen über die Gründe seines Abgangs beim Team DMS (ehemals Sunweb). Und schliesslich verläuft der Saisonstart mit seinem neuen Arbeitgeber mehr schlecht als recht.
Einerseits hat Hirschi mit dem neuen Material zu kämpfen, die ungewohnten Schuheinlagen sollen ihm Probleme machen. Zudem ist beim 22-Jährigen von wiederkehrenden Hüftproblemen die Rede, zu guter Letzt verheilt ein gezogener Weisheitszahn nicht wie erhofft. Das zumindest sind die offiziellen Gründe, weshalb Hirschi die für sein Emirates-Debüt vorgesehene, «heimische» UAE Tour Ende Februar verpasst.
Für Rad-Experte Henri Gammenthaler steckt da aber mehr dahinter. «Er hatte kein Velo!», sagt der Zürcher im Gespräch mit «blue Sport» und erklärt: «Da wird nach wie vor viel verschwiegen. Marc hatte (bei Team DMS) ein Massvelo, ein Velo, das genau auf ihn ausgerichtet ist. Ein Unikat, dass sonst niemandem passt. Darauf hat er seine optimale Position gefunden und ist die früheren Rückenprobleme losgeworden. Dieses Velo hat man aber zurückgehalten, ein Affront gegenüber Hirschi», ist Gammenthaler überzeugt.
Grosser Rückstand bei der Katalonien-Rundfahrt
Es ist für ihn das nächste Signal, dass bei Hirschis Wechsel nicht alles ganz so reibungslos abgelaufen ist. Weil die beiden Teams bezüglich der Vertragsauflösung Stillschweigen vereinbart haben, wird die ganze Wahrheit wohl nie ans Licht kommen. «Warum braucht es eine Vereinbarung, wenn alles okay ist? Es fehlt mir die Transparenz, es ist alles sehr vage. Das macht alles ein wenig komplizierter», sagt Gammenthaler.
Henri Gammenthaler
Henri Gammenthaler analysiert das Radsport-Geschehen für «blue Sport». Der Zürcher war einst selbst Fahrer, später TV- und Radio-Experte und Kommentator der Tour de Suisse.
Fakt ist aber, dass Hirschi die neue Saison erst mit mehr als einem Monat Verspätung in Angriff nimmt. In der vergangenen Woche fährt er bei der Katalonien-Rundfahrt erstmals für die neuen Farben – und hinkt den Besten noch hinterher. «Team Ineos fuhr alle in Grund und Boden. Diese Fahrer haben schon unglaubliche Rennen gefahren und man sagt, mit jedem Kilometer, den man in den Beinen hat, wird man besser», so Gammenthaler. Und weiter: «Hirschi hatte keine Chance, er wurde regelrecht abgehängt. Wenn man in sieben Etappen mehr als eine halbe Stunde auf den Sieger verliert … Als ich den Liveticker sah, dachte ich mir: Das kommt nicht gut.»
Gleichzeitig kommt der harzige Auftakt in Katalonien wenig überraschend, hat Hirschi die Erwartungen doch bereits vor der Rundfahrt gedämpft. Zusätzlich bringt Gammenthaler den nicht zu unterschätzenden mentalen Aspekt ins Spiel: «Ein neues Velo massschneidern, einen riesigen Trainingsrückstand aufholen. Und Hirschi ist ein Kopf-Mensch – dass sein 22-jähriger Kumpane Pogacar während seines Ausfalls eine Vertragsverlängerung um fünf Jahre erhält, ist ein deutliches Zeichen.»
«Mit leeren Schläuchen kannst du nicht fahren»
Für Gammenthaler entscheidet sich Hirschis nahe Zukunft auch zwischen dessen Ohren. «Wenn du mental stark bist, kannst du den Trainingsrückstand noch eher wettmachen. Er ist niemals so in Form wie im letzten Jahr, denn die letzten Monate haben ihm geschadet. Aber er kann den Tritt noch finden.»
Dafür sind aus Sicht des Rad-Experten vor allem zwei Dinge von entscheidender Bedeutung. «Als Erstes muss er im neuen Team eine geeignete Bezugsperson oder einen guten Betreuer finden. Jemand, der ihn als Mensch vorwärtsbringt und Selbstvertrauen spendet», so Gammenthaler. Zudem müsse Hirschi «Rennkilometer in die Beine kriegen» – und zwar möglichst rasch. Bereits Ende April stehen mit dem Ardennen-Klassiker nämlich die ersten grossen Saisonziele des Berners an. Zur Erinnerung: In der letzten Saison gewann Hirschi die Flèche Wallone sensationell und bei Lüttich–Bastogne–Lüttich musste er sich nur Primoz Roglic geschlagen geben.
In diesem Jahr will und muss sich der Schweizer nun bestätigen. Will er den Wettlauf gegen die Zeit gewinnen, führt gemäss Gammenthaler kein Weg daran vorbei, auch die Baskenland-Rundfahrt (ab 5. April) noch zu absolvieren. «Das ist seine Möglichkeit, damit er wenigstens noch eine Rundfahrt in den Beinen hat», sagt Gammenthaler und macht klar: «Er zählt als Ein-Tages-Spezialist, als Favorit auf die Klassiker. Aber mit leeren Schläuchen kannst du dort nicht aufs Podest fahren.»