Eddy Merckx Vor 52 Jahren: Das erste Festmahl für den Kannibalen

SDA

12.6.2020 - 05:04

Vor 52 Jahren gewann Eddy Merckx den Giro d'Italia. Es war sein erster Triumph bei einer grossen Rundfahrt und der Beginn einer einzigartigen Dominanz im Radsport.

Man sagt, am 12. Juni 1968 habe die grösste und prägendste Ära im Radsport ihren Anfang genommen. An diesem Tag fuhr Eddy Merckx in Neapel als Sieger des Giro d'Italia über den Zielstrich. Es war der erste Sieg bei einer grossen Rundfahrt für den damals knapp 23 Jahre alten Belgier. Doch eigentlich hat Merckx den Giro d'Italia 1968 nicht am 12. Juni in Neapel gewonnen, sondern elf Tage zuvor, in der zwölften Etappe hinauf an den Fuss der legendären «Tre Cime», den drei Zinnen, diesen prägnanten Zacken in den Dolomiten, im Grenzgebiet zwischen Italien und Österreich. Hier deklassierte Merckx die Konkurrenz und liess erahnen, was in den nächsten Jahren zu erwarten war: Rennen nämlich, die von ihm fast nach Belieben kontrolliert, dominiert und gewonnen werden.

Bilder und Anekdoten dieser Etappe fehlen nie, wenn die Höhepunkte der mittlerweile 102 Austragungen des Giro d'Italia erzählt werden. Merckx stellte auf dem Schlussaufstieg zum Rifugio Auronzo zunächst eine Fluchtgruppe, die zuvor noch rund neun Minuten Vorsprung hatte, und gewann danach die Etappe solo. Dem bisherigen Leader Michele Dancelli nahm er über sechseinhalb Minuten ab. Vittorio Adorni, der nachmalige Zweite und eigentlich sein Chef im Team von Faema, distanzierte Merckx um knapp eine Minute. Der Giro war damit frühzeitig entschieden.

Doch es war nicht nur die Art, wie Merckx gewann, welche diese Etappe in den Dolomiten zur Legende werden liess. Die atmosphärischen Umstände machten die steilen Schlussrampen fast zum unüberwindbaren Hindernis. Die Fahrer kamen bei starkem Wind und Schneefall teilweise kaum voran. Der Legende nach sollen sie halb durchfroren am Ziel angekommen sein und ihre Glieder kaum noch gespürt haben. Teilweise hätten sie bitter weinend von den Team-Helfern in die spartanischen Unterkünfte getragen werden müssen. Viele von ihnen sprachen auch Jahre später vom schlimmsten Rennen ihrer Karriere.

Triumph nur dank schlechtem Wetter?

Ja, es war ein Giro d'Italia des schlechten Wetters. Denn es wurde später auch im Süden, auf dem letzten Drittel der Rundfahrt, nicht besser. Die Italiener und vor allem ihr grosser Favorit Felice Gimondi hofften bis zuletzt vergebens auf ein paar Hitzetage, um dem Belgier Merckx doch noch beizukommen. Merckx selbst gab am Ende der Rundfahrt zu, dass ihm das kühle Wetter im Duell mit Gimondi, Adorni und Co. entgegen kam.

Merckx war im Frühsommer 1968 schon Weltmeister und nun auch Sieger des Giro d'Italia. Er war mit noch nicht einmal 23 Jahren aber auch noch kein rundum anerkannter Champion wie etwa Gimondi oder Jacques Anquetil. Oder wie es in den ersten Jahren nach dem zweiten Weltkrieg die Italiener Gino Bartali und Fausto Coppi sowie die Schweizer Ferdy Kübler und Hugo Koblet gewesen waren.

Die Diskussion (geführt am lautesten in der den Giro veranstaltenden «Gazzetta dello Sport»), ob Merckx den Giro d'Italia 1968 nur dank dem misslichen Wetter, das die Italiener so sehr benachteiligt haben soll, derart habe dominieren und gewinnen können, ist in der Retrospektive ein Hohn. Bis zu seinem Rücktritt gewann Merckx vier weitere Male den Giro d'Italia, fünfmal die Tour de France und einmal die Vuelta. Er wurde noch zwei Mal Strassen-Weltmeister und siegte insgesamt 19 Mal bei einem der fünf grossen Tagesrennen Mailand-Sanremo, Flandern-Rundfahrt, Paris-Roubaix, Lüttich-Bastogne-Lüttich und Lombardei-Rundfahrt.

Allrounder und Allesfresser

Merckx gewann bei Wind und Wetter (und Schnee), bei Hitze und Sonnenschein. Er dominierte die Konkurrenz am Berg und im Zeitfahren. Er war ein hervorragender Sprinter und siegte sogar auf der Bahn und querfeldein. Er fuhr offensiv und liess den Mitstreitern auch dort nur die Brosamen übrig, wo er es sich hätte leisten können, ein Rennen oder eine Etappe nur zu kontrollieren, statt auch noch zu gewinnen. Deshalb nannten sie ihn bald einmal den Kannibalen.

Nachdem Merckx dank diesen Qualitäten den Giro d'Italia 1968 gewonnen hatte (und nebenbei auch noch die Berg- und Punktewertung), verglichen ihn Experten und Kommentatoren aufgrund seines Stils und seiner Art, in Rennen stets auf Sieg zu fahren, mit dem Italiener Coppi. Das war damals als Ritterschlag zu verstehen. Heute, 52 Jahre später, weiss man: Eddy Merckx lässt sich mit keinem vergleichen. Er ist der erfolgreichste und vielfältigste Radrennfahrer der Geschichte.

Zurück zur StartseiteZurück zum Sport