Gewinnt Alexander Zverev die French Open, wäre er am Montag die neue Nummer 1 der Tennis-Welt. Die Zuversicht in Deutschland ist gross, mehr noch spricht aber für eine weitere Enttäuschung auf Grand-Slam-Stufe.
Leise treten ist bekanntlich nicht eine der grossen Stärken der Deutschen. Und so ist es wenig verwunderlich, dass Alexander Zverev mal als grosser Versager abgekanzelt, dann wieder als Heilsbringer des deutschen Tennis hochgejubelt wird. Im Moment haben die Lobeshymnen wieder Hochkonjunktur.
«Alexander Zverev plötzlich Favorit – wen soll er jetzt noch fürchten?», titelt etwa die Website von «Eurosport» und erklärt ausführlich, «warum Nadal dieses Mal fällig ist». Auch die «Bild» gibt sich nicht kleinlich und spricht vor dem Halbfinal von einer «Riesenchance» für den Deutschen.
Da stellt sich unweigerlich die Frage, ob die Reporter den grandiosen Auftritt von Rafael Nadal am Dienstagabend gegen Novak Djokovic gesehen haben. Denn auf diesem Niveau spielt Zverev (noch) nicht. Und einen Nadal in Roland Garros, wo er sagenhafte 13 Mal triumphiert und 110 von 113 Matches gewonnen hat, sollte jeder fürchten. Im Halbfinal gegen ebendiesen Nadal droht die Rückkehr auf den Boden der Tatsachen.
Oder Zverev besteigt tatsächlich den Tennis-Thron. Sollte der Hamburger den Mallorquiner bezwingen und im Final am Sonntag gegen den Sieger des Duells Ruud – Cilic triumphieren, so wäre er der erste Deutsche seit 31 Jahren, der von der Spitze der Weltrangliste grüsst. Zuletzt gelang das Boris Becker 1991. Heute grüsst dieser nur noch aus dem Knast in London.
Fr 03.06. 14:45 - 17:25 ∙ SRF zwei ∙ 160 Min
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Überall top, bei Grand Slams flop
Aus der Luft gegriffen ist die Euphorie um Zverev nicht. In erster Linie gründet seine Zuversicht aber auf dem Viertelfinal-Sieg gegen den spanischen Teenager und Mitfavoriten Carlos Alcaraz, der die letzten Monate dominierte und vier Turniere gewonnen hat.
Es war Zverevs erster (!) Sieg bei einem Grand-Slam-Event gegen einen Spieler aus den Top Ten. Und darauf gründet eine gewisse Skepsis, ob der 25-Jährige tatsächlich bereit ist für den grossen Coup. Die Diskrepanz zwischen seinen Leistungen bei den grössten Events nach den Majors (ATP Finals, Olympia, Masters-1000), bei denen die Weltelite fast lückenlos vertreten ist, wo aber nur auf zwei Gewinnsätze gespielt wird, und den Grand-Slam-Turnieren mit dem Best-of-5-Format ist nämlich frappant.
Nicht weniger als achtmal hat Zverev beim Masters (2), bei Olympia im Einzel (1) und den Masters-1000-Turnieren (5) triumphiert. Zum Vergleich: Das sind sieben mehr als Stan Wawrinka. Auf Grand-Slam-Stufe ist der verlorene Final am US Open 2020 gegen Dominic Thiem, als ohne Zuschauer und unter strikter Quarantäne gespielt wurde, sein einziges Highlight. Manche Auftritte waren unerklärlich schwach wie im Januar am Australian Open, als er von Denis Shapovalov praktisch widerstandslos deklassiert wurde.
So startete Zverev ins French Open als «so wenig Favorit wie schon lange nicht mehr», wie er vor dem Turnier selber sagte. Vielleicht ist dies nun genau sein Erfolgsgeheimnis. Denn der Druck, den er in Deutschland spürte und den er sich als unbestritten hochtalentiertes, eigentliches Wunderkind selber macht, wirkt oft bleischwer auf seinen Schultern. Ablenkungen durch Klagen eines früheren Agenten und Missbrauchsvorwürfe seiner ehemaligen Freundin halfen auch nicht bei der Konzentration auf das Wesentliche.
Die Uhr tickt
Zverev ist sich der Schwierigkeit seiner nächsten Aufgabe am Freitag gegen Rafael Nadal sehr wohl bewusst: «Gegen Rafa hier in Roland Garros zu spielen ist sicherlich die schwerste Aufgabe, die man im Tennis haben kann.»
An Selbstbewusstsein mangelt es dem Deutschen aber nicht. «Ich bin immer noch die Nummer 3 der Welt, ich habe grosse Matches und Turniere gewonnen», rief er fast schon trotzig in Erinnerung. Bloss noch nie auf Grand-Slam-Stufe. Und Zverev spürt den Atem der Jungen wie Alcaraz, Félix Auger-Aliassime oder Holger Rune im Nacken.
Wenn er nicht bald diesen Schritt zum Grand-Slam-Sieger macht, könnte es ihm wie einst der Generation um Jo-Wilfried Tsonga, Tomas Berdych oder David Nalbandian ergehen. Erst kommt er nicht an der Ausnahmegeneration mit Federer, Nadal und Djokovic vorbei, dann wird er von (noch) Jüngeren überholt. Die Uhr tickt also.
sda/tbz