Manchester United liegt vor dem Klassiker gegen Liverpool am Tabellenende. Es ist eine Krise auf mehreren Ebenen – und vor allem eine mit Ansage.
Gary Neville ist selten um markige Worte verlegen. «Ich verfolge Manchester United seit 42 Jahren, und ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals so schlimm war wie in dieser ersten Hälfte», sagte der langjährige United-Captain und BBC-Experte nach der 0:4-Niederlage beim bescheidenen Brentford. «United wurde zerfleischt, heruntergeputzt und zum Gespött gemacht. Wir erleben gerade die Zerstörung von Manchester United.»
Erstmals seit der allerersten Premier-League-Saison (1992/93) liegt der Rekordmeister nach zwei Runden mit null Punkten am Tabellenende. Vor 30 Jahren wurde man in der Folge noch Meister. Ein solches Szenario ist heuer undenkbar, zu viel liegt bei den «Red Devils» im Argen. Und am Montag kommt ausgerechnet Erzrivale Liverpool ins Old Trafford.
Die Aussicht muss sämtlichen ManUnited-Fans und Spielern den Angstschweiss auf die Stirn treiben. Als die «Reds» vor zehn Monaten letztmals in der Meisterschaft zu Gast waren, setzte es eine 0:5-Klatsche ab. Und wer schon von Brighton und Brentford deklassiert wird, hat allen Grund, sich vor Jürgen Klopps Truppe zu fürchten.
Zinszahlungen von 1,2 Milliarden
Manchester Uniteds Abstieg ins Mittelmass kommt indes wenig überraschend. Für viele Beobachter sind die Schuldigen klar: die Besitzerfamilie aus Amerika. Im Gegensatz zu den arabischen Investoren beim Stadtrivalen Manchester City oder Roman Abramowitsch bei Chelsea wollen die Glazers nicht ihr eigenes Geld in den Klub stecken, sie wollen mit ihm welches verdienen.
Als sie die Mehrheitsanteile 2005 kauften, taten sie dies nicht mit eigenen Mitteln, sondern mit einem Kredit, der auf den Verein überschrieben wurde. Fremdfinanzierte Übernahme nennt sich das und lässt sich mit dem Kauf eines Hauses vergleichen, auf das nach Erwerb eine umfassende Hypothek aufgenommen wird.
Seither schiebt Manchester United, an den kommerziellen Einnahmen gemessen jahrelang der reichste Klub der Welt, einen riesigen Schuldenberg vor sich her. Seriösen Quellen zufolge flossen seither über 1,2 Milliarden Franken an Zinszahlungen ab, die nicht in die Mannschaft investiert werden konnten.
Zunächst übertünchten Trainerlegende Alex Ferguson und der kompetente CEO David Gill den drohenden Zerfall, nach deren Rücktritt 2013 gab es aber keinen einzigen Premier-League-Titel mehr. Der ehemalige Aussenverteidiger Gary Neville, der seine gesamte Karriere bei Manchester United verbrachte, alleine in der Premier League 400 Mal spielte und acht Meister- sowie zwei Champions-League-Titel holte, nimmt deshalb nicht nur die aktuellen Spieler in die Pflicht.
«Sie bewerfen das Problem mit Geld»
«Joel Glazer muss schon morgen ins Flugzeug steigen, hierherkommen und erklären, was seine Pläne mit dem Verein sind», wetterte der 85-fache englische Internationale. «Noch vor zwei Monaten haben sie wieder 28 Millionen aus dem Verein herausgezogen. Dabei haben sie ein zweitklassiges, zerfallendes Stadion, das noch vor zehn, fünfzehn Jahren zu den besten der Welt gehörte.»
Nun ist es nicht so, dass Manchester United nichts in Spieler investiert. Es fehlt aber die Kompetenz in der Führungsetage, seit Gill weg ist. Bestes Beispiel ist die Posse um Barcelonas Frenkie de Jong. ManU hätte den Niederländer offensichtlich gerne, doch dieser will um keinen Preis ins Old Trafford, das einstige «Theatre of Dreams», das jeglichen Glanz eingebüsst hat.
Stattdessen kommt nun Casemiro von Real Madrid. Dem Brasilianer soll das Doppelte seines Gehalts beim spanischen Meister angeboten worden sein, hinzu kommt eine kolportierte Ablösesumme von rund 70 Millionen Euro. «Sie bewerfen das Problem einfach mit Geld», kommentierte Neville den jüngsten Transfer.
Liverpool als Vorbild
Wie man es besser macht, zeigt ausgerechnet Liverpool, mit 19 Titeln wieder nur einer hinter United. Die beiden Erzrivalen teilen eine lange Geschichte als Klubs aus Industrie- und Arbeiterstädten im «dreckigen» Norden, die den hochnäsigen Londonern das Fussballspielen lehren. Viele schüttelten den Kopf, als Liverpool für die damalige Rekord-Ablöse von rund 100 Millionen Franken den Verteidiger Virgil van Dijk von Southampton holte. Doch zusammen mit dem Torhüter Alisson bildete van Dijk das Fundament, auf dem Liverpool an die Spitze zurückkehrte. Zudem ist Jürgen Klopp mittlerweile der dienstälteste Trainer in der Premier League.
Von solchen Perspektiven träumen sie im Old Trafford nur noch. Im Mai letzten Jahres musste die Partie zwischen United und Liverpool sogar verschoben werden, weil wütende Fans das Stadion gestürmt hatten. Auch nun haben diese wieder Proteste angekündigt. Entschärfen könnte die Situation ein Verkauf des Klubs. Mit dem Milliardär und Ineos-Besitzer Jim Ratcliffe hat diese Woche jedenfalls ein potenter Investor sein Interesse angemeldet.
Der Kauf von Chelsea scheiterte in diesem Frühjahr, doch bei Manchester United wäre der 69-Jährige wohl sowieso mit mehr Herzblut dabei. Ratcliffe ist in Manchester geboren und seit Kindesbeinen ein United-Anhänger. Daneben besitzt er auch das erfolgreiche Radteam Ineos-Grenadiers sowie die Fussballklubs Lausanne-Sport und Nice. Er könnte ein Hoffnungsschimmer in düsterer Nacht sein.
sda / tbz