Rangnicks Albtraum in Manchester Als Reformator eingestellt, um ignoriert zu werden

Von Tobias Benz

10.8.2022

Ralf Rangnicks Änderungsvorschläge stiessen in Manchester auf taube Ohren.
Ralf Rangnicks Änderungsvorschläge stiessen in Manchester auf taube Ohren.
Bild: Keystone

Manchester United steckt in der Krise. Seit Jahren. Auch unter dem neuen Trainer Erik ten Hag glückt der Saisonstart nicht. Hätten die Red Devils bloss besser auf Ex-Coach Rangnick gehört. Oder wollten sie das gar nicht? Ein Kommentar.

Von Tobias Benz

Mit einer Standing Ovation begrüsst das altehrwürdige Old Trafford am Sonntag seinen neuen Hoffnungsträger. Unter tosendem Applaus gibt es für Erik ten Hag zuerst einen niedlichen Klatscher von Maskottchen «Fred the Red», dann einen richtig dicken von der Elf aus Brighton.

Nur 30 Minuten hält die zuversichtliche Aufbruchsstimmung in Manchester, bis Pascal Gross das «Theatre of Dreams» mit dem 0:1 zurück in die Realität ballert. Die während des Transferfensters neu gewonnene Hoffnung verlässt das Stadion schneller als Cristiano Ronaldo in der Halbzeitpause eines Vorbereitungsspiels

Verübeln kann man es den Fans nicht. Seit dem Abgang von Trainer-Legende Sir Alex Ferguson im Jahr 2013 rutscht Manchester United von einer Misere in die nächste. Nach dem 1:2 zum Saisonauftakt gegen Brighton spricht nicht viel für Besserung. Dabei hätte doch dieses Mal alles anders kommen sollen.

Der grosse Nicht-Umbruch

Die Hoffnung beginnt im April 2021. Der für etliche Transfer-Flops verantwortliche Geschäftsführer Ed Woodward verzückt die United-Anhänger mit dem einzigen Wort, das sie von ihm hören wollen. «Goodbye». Nach unzähligen Protestaktionen, bei denen sogar Woodwards Anwesen in Cheshire mit Pyrotechnik beworfen wird, kündet der verhasste Ex-Investmentbanker an, auf Ende 2021 zurückzutreten. Ein Versprechen, das er für einmal einhält.

Ed Woodward machte sich in seiner Zeit bei Manchester United keine Freunde unter den Fans.
Ed Woodward machte sich in seiner Zeit bei Manchester United keine Freunde unter den Fans.
Bild: Getty Images

Prompt verkündet Manchester United nur ein paar Monate später – nach der Entlassung von Trainer Ole Gunnar Solskjaer – grosse Veränderungen. Anstatt wie gewöhnlich auf den nächstbesten Trainer und ein astronomisches Transferbudget zu setzen, will der Verein mit Ralf Rangnick einen erfahrenen Fussballfunktionär einschleusen. Der deutsche Taktikfuchs soll den Traditionsklub zuerst interimistisch bis im Sommer 2022 trainieren und später als Berater umstrukturieren und zu alter Stärke zurückführen.

Ein durchdachter, langfristiger Plan – aus dem nichts werden soll.

Die Idee kommt von John Murtough. Der 51-Jährige wird 2021 von Woodward in die neue Rolle des «Head of Football» befördert und ist dort für derlei Entscheide zuständig. Englischen Medienberichten zufolge ist Murtough bei den Mitarbeitern des Klubs aber «nicht sehr beliebt».

Davon unbeeindruckt setzt der zuvor in der Fussballentwicklung tätige Murtough seinen Plan um und stellt mit Rangnick einen erfahrenen Fussball-Kenner als neue Leitfigur vor. «Es freuen sich alle hier, mit ihm zusammenzuarbeiten», verkündet Murtough stolz.

Von Zusammenarbeit ist dann nicht viel zu sehen. Schon zu Beginn gibt es unzählige Fragezeichen. So beispielsweise um Rangnicks Wunsch-Assistenten Lars Kornetka, der nicht zusammen mit dem Interimstrainer verpflichtet wird, sondern bei Lokomotive Moskau bleibt.

Doch Rangnick kann nicht auf seinen langjährigen Gehilfen verzichten, weshalb dieser zu Beginn die United-Spiele aus Russland mitverfolgt und in der Pause per Funk eine Live-Analyse abgibt. Kostenlos. Das wiederum sorgt für Ärger bei Chef-Analyst Paul Brand, der auf die Tribüne verbannt wird. Und schon ist ein erstes Mal Feuer unterm Dach.

Lückenfüller statt Leitfigur?

Murtough unterstützt Rangnick auch bei den Staff-Mitgliedern nicht. Statt den gewünschten sechs neuen Mitarbeitern erhält der Trainer lediglich deren drei. Und auch Wintertransfers sind ein Tabu. Wie die Zeitung «Manchester Evening News» mittlerweile wissen will, fordert Rangnick im Januar Spieler wie Julian Alvarez (jetzt ManCity), Luis Diaz (jetzt Liverpool) oder Dusan Vlahovic (jetzt Juventus). Audienzen beim scheidenden Ed Woodward oder bei Transfer-Chef Matt Judge gibt es aber gleich viele wie Neuverpflichtungen: keine.

Je mehr Zeit vergeht, desto deutlicher wird, dass Rangnick wohl eher als Lückenfüller statt Leitfigur verpflichtet wurde. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Deutsche zu einschneidend umstellen will. Er sagt öffentlich: «Jeder kann sehen, wo die Probleme liegen. Jetzt geht es nur darum, sie zu lösen. Es reicht nicht, ein paar kleine Änderungen vorzunehmen. In der Medizin würde man von einer Operation am offenen Herzen sprechen.»

Kein Nkunku, kein Haaland

Fürchten sich die Schwergewichte in der United-Führung etwa vor zu grosser Veränderung? Haben sie Angst um ihre Stellung? Gemäss dem britischen «Athletic» durchaus möglich. So hätten einige Mitarbeiter Rangnick sogar darauf hingewiesen, er soll sich doch lieber um die Mannschaft als um die internen Strukturen des Klubs kümmern.

Ende Mai dann der Paukenschlag. Ralf Rangnick verlässt Manchester United und wird nun doch nicht als Berater beim Klub bleiben. Neu ist er als Coach der österreichischen Nationalmannschaft tätig. Dieses Mal wieder zusammen mit Assistenztrainer Lars Kornetka.

Dass er nicht ewig bleiben würde, war von Beginn weg klar. Dennoch ist der frühzeitige Abgang eine Überraschung. Helfen will er aber bis zum Schluss. Nach einer 0:4-Pleite bei Erzrivale Liverpool fordert er die Vereinsführung öffentlich dazu auf, für den neuen Trainer bis zu zehn Spieler zu verpflichten. Hinter den Kulissen soll er auch Namen nennen. Haaland, Nkunku, Laimer oder Gvardiol. Der Schweizer Nationalspieler Denis Zakaria soll übrigens entgegen Medienberichten nicht dazu gehört haben (Manchester Evening News).

Erling Haaland schlug bei Stadtrivale ManCity voll ein.
Erling Haaland schlug bei Stadtrivale ManCity voll ein.
Bild: Keystone

Neuer Trainer, neues Glück?

Doch erneut wird Rangnik kein Gehör geschenkt. Im Sommer setzt ManUnited auf eine völlig andere Transferstrategie und verpflichtet Christian Eriksen, Tyrell Malacia und Lisandro Martinez. Immerhin: Das Mitspracherecht des neuen Trainers ten Hag scheint bei diesen Transfers herauslesbar zu sein. 

Damit verfügt der Holländer über ein Kader, das von insgesamt fünf Trainern zusammengestellt wurde. Es ist ein Team, das seine fehlende Verbundenheit zum Klub letztes Jahr offen zeigt, indem neun bis zehn Spieler nicht zu einem Abschiedsessen langjähriger Mitarbeiter erscheinen. Und dessen Zusammenhalt so schwach ist, dass Superstar Cristiano Ronaldo einst ein Meeting einberufen liess, um über einen Zwei-Mann-Sturm zu diskutieren, ohne Captain Harry Maguire dazu einzuladen («The Athletic»).

Keine einfache Aufgabe, daraus eine funktionierende Mannschaft zu bilden. Erst recht nicht, wenn auch die Strukturen drumherum nicht zu funktionieren scheinen.

Zwar hat mittlerweile auch der seit 2012 angestellte Transfer-Chef Matt Judge seine Kündigung eingereicht. Ganz oben trifft aber immer noch die Glazer-Familie die Entscheidungen. Dieselbe Familie, die den Klub 2005 mithilfe einer fremdfinanzierten Übernahme ergaunerte und dadurch mit einem Schlag in ein 600 Millionen tiefes Schuldenloch stürzte.

Da überrascht es auch niemanden, dass zahlreiche Anhänger seit Jahren vor wichtigen Heimspielen gegen die Besitzer demonstrieren. Vor dem Saisonauftakt gegen Brighton musste der Fan-Shop beim Stadion aufgrund einer Protestaktion mehrerer Tausend Personen vorübergehend geschlossen werden.

Sollte ten Hag auch sein zweites Spiel verlieren, dürften es beim nächsten Heimspiel deutlich mehr sein. Dann geht es ausgerechnet gegen Liverpool.

«Glazers out»-Plakate sind im Old Trafford seit Jahren Alltag.
«Glazers out»-Plakate sind im Old Trafford seit Jahren Alltag.
Bild: Getty