Meine beiden Grossväter habe ich leider nie richtig kennengelernt. Mit Köbi Kuhn gab es jedoch würdigen Ersatz. Eine persönliche Hommage.
Sowohl die Sprachbarriere als auch die Distanz machten es mir schwierig, eine starke Verbindung zu meinen beiden Grossvätern aufzubauen. Als beide Opas dann innert kurzer Zeit verschieden, machte dies weitere Annäherungsversuche, vom Erfahrungsschatz von weisen Herren zu profitieren, abrupt zunichte. So adoptierte ich einen älteren Mann aus dem Fernsehen, der mit mir meine grosse Liebe zum Fussball teilte: Köbi Kuhn.
Wahrscheinlich zum ersten Mal richtig wahrgenommen habe ich ihn, als er bei der U-21-Nationalmannschaft als Trainer amtete. Während auf dem Feld junge Wilde den Ton angaben, stand an der Seitenlinie ganz entspannt ein rüstiger Herr. Damals war Kuhn zwar offiziell wohl noch kein Rentner, doch mit seinen schlohweissen Haaren sah er bereits aus wie jemand, der schon viel gesehen und erlebt hat.
Die ruhige und bedächtige Art, die er ausstrahlte, schien genau der passende Gegenpol zu seinen Schützlingen zu sein. Genau so einen braucht man doch als hormontriefender Teenager, wenn man wieder etwas ausgefressen hat. Da wird man wohl zuweilen harsch kritisiert, doch die Worte treffen nicht ins noch unerfahrene Herz, weil man gleichzeitig gutmütig auf den Kopf getätschelt wird wie ein tollpatschiger Golden Retriever. Zumindest stellte ich mir etwa so das Innenleben in der Kabine damals vor.
Charismatischer Bad Boy mit Herz
Langweilig oder gar bieder war Köbi Kuhn beileibe nicht, wie man vielleicht hätte meinen können. So war der FCZ-Regisseur in den 60er- und 70er-Jahren der überragende Spieler in der Schweiz. Seinem Klub blieb der Zürcher stets treu und wechselte trotz vielen Angeboten nie – das beeindruckte mich natürlich.
Als Jugendlicher wuchs ich nämlich in die professionelle Neuzeit des Fussballs hinein, in der Spieler ihre Vereine für ein nettes Handgeld schmerzfrei verlassen würden.
Doch Kuhn imponierte mir nicht nur wegen seiner loyalen Ader, sondern weil er auch ein Lebemann mit Ecken und Kanten war. So las ich erstaunt, dass er nicht nur gern einmal mit seinen Teamkollegen um die Häuser zog, um sich ein paar Bierchen zu gönnen, sondern sogar an der WM 1966 im Schlepptau von Engländerinnen erwischt wurde. Zur Strafe wurde er für zwei Jahre aus der Nati ausgeschlossen – als «Nacht von Sheffield» ging es in die hiesigen Annalen ein.
Auch die Schweiz hatte mit Köbi also ein Feierbiest wie die Nordiren George Best, nickte ich anerkennend dem unbekannten Lausbuben imaginär zu. Und wie Muhammad Ali musste er seinen Dienst für sein geliebtes Vaterland einstellen. Von solchen Heldentaten beziehungsweise Opferungen las ich ansonsten nur in den Reclam-Büchern, aber doch nicht in meiner «Bravo-Sport», die ich im Abo hatte.
Da könnte mir also einer nicht nur von Wasser predigen, sondern jemand, der auch mal Wein gekostet hat, was natürlich weitaus interessanter ist. Und irgendwie zauberte diese Vorstellung, wie Köbi mir bei einem Feierabendbier augenzwinkernd Geschichten aus seinem Nähkästchen erzählt, ein schelmisches Lächeln auf die Lippen.
Die noble Geste
Meine Freude wuchs, als er der A-Nati zu unerwarteten Höhenflügen verhalf. Endlich konnte man in der Schweiz mit der Landesauswahl mitfiebern. Mir fiel in den Interviews auf, dass Kuhn kein Schreihals war, der sich grösser machen will, als er ist.
Obwohl gerade «Köbi National» doch genügend Gründe gehabt hätte, abzuheben. Seine Bescheidenheit drückte sich auch in seiner Stimme aus, die leise, manchmal fast flüsternd rüberkam. So musste man sich bei ihm stets konzentrieren, wenn man alles mitbekommen wollte. Dafür gab es als Belohnung wahre Gedankengänge, noch nicht durchtränkt vom üblichen PR-Gesülze. Einfach Worte vom Fleck weg sozusagen.
Jemandem gut zuhören, war eine gute Schule für junge Erwachsene, speziell an der Schwelle zum Arbeitsleben. Nicht gleich den verführerischen Parolen der Lautesten auf den Leim gehen, sondern lieber den bedächtigen Menschen lauschen und wirken lassen.
Mit den Erfolgen in der Nationalmannschaft erkannte bald auch die grosse Masse – für mich Aussenstehende — die fürsorgliche und gutmütige Art dieses besonderen Mannes, der aus einem Holz früherer Zeiten geschnitzt worden zu sein schien, wo Werte und Worte noch zählten. So beschloss ich eines Tages grosszügig, dass es in Ordnung geht, wenn ich meinen in Gedanken adoptierten Grosspapi mit allen Schweizern teile. Als Folge fühlte ich mich grossartig, weil ich sicher war, Köbi Kuhn hätte diese edle Tat nicht nur gutgeheissen, sondern wäre auch stolz gewesen auf seinen unbekannten Enkel.
Regelmässig gibt es werktags um 12 Uhr bei «Bluewin» die Kolumne am Mittag – es dreht sich um bekannte Persönlichkeiten, mitunter auch um unbekannte – und manchmal wird sich auch ein Sternchen finden.