«Mamma mia» Italiens Fussball im Elend

sda

25.3.2022 - 22:15

Acht Monate nach dem EM-Titel ist Italiens Fussball wieder im Elend. Nach dem Scheitern in den WM-Playoffs gegen Nordmazedonien bleibt festzuhalten: Der Calcio steckt seit Jahren im Mittelmass fest.

Diesmal haben sie in Italien wenigstens nicht mehr den Weltuntergang beschwört. «Italien draussen», titelte die «Gazzetta dello Sport». Vor vier Jahren nach dem Verpassen der WM 2018 in Russland hatte die grösste Sportzeitung des Landes noch vom «Ende» geschrieben. «FINE» stand da in übergrossen Lettern. Diesmal also haben die italienischen Medien auf apokalyptische Ansätze weitgehend verzichtet. Das wäre angesichts eines brutalen Krieges in Europa auch reichlich übertrieben gewesen.

In der Analyse wird das erneute Scheitern in der WM-Qualifikation nach dem 0:1 gegen Nordmazedonien aber nicht weniger hart beurteilt wie das Scheitern im Herbst 2017 gegen Schweden. Die Schuldigen für die Blamage sind rasch gefunden: Verbandspräsident Gabriele Gravina und Nationaltrainer Roberto Mancini.

Gerade beim so populären «Mancio» ist das eine gar nicht so einfache Sache. Noch vor acht Monaten nach dem EM-Triumph haben sie den Coach auf einen Sockel gehievt, von dem sie ihn nun wieder herunterstossen sollten. Vielleicht steigt Mancini aber auch selbst vom Thron. Er überlege sich die Demission, hiess es. Zumindest sprach Mancini vom «schlimmsten Moment meiner Karriere».

1 Sieg in 6 Spielen

In acht Monaten von Hero to Zero. Vom EM-Titel gegen England zum Scheitern in den WM-Playoffs gegen Nordmazedonien. Kaum je ist ein Fussballteam in der Geschichte so schnell so tief gefallen. An der EM hatten die Gipfelstürmer in Blau der Reihe nach Belgien, Spanien und England besiegt. Ein paar Monate später schaffte die nahezu gleiche Mannschaft in der WM-Qualifikation in sechs Spielen gegen Bulgarien (1:1), die Schweiz (0:0, 1:1), Nordirland (0:0), Litauen (5:0) und Nordmazedonien (0:1) einen einzigen Sieg.

Natürlich kann man jetzt den Konjunktiv bemühen. Hätten nicht die Bulgaren mit ihrem einzigen Torschuss den Ausgleich erzielt. Hätte Jorginho wenigstens einen von zwei Penaltys gegen die Schweiz verwertet. Hätte Domenico Berardi gegen Nordmazedonien schon früh aus zwölf Metern das leere Tor getroffen. Doch der Konjunktiv prägt im Sport die Sprache der Verlierer. Das sind die Italiener im Moment – und sie tun gut daran, sich vertieft mit ihren Problemen zu befassen.

Dann nämlich kommen sie zum Schluss, dass die Wahrheit zwischen (EM-)Triumph und (WM-)Elend nicht in der Mitte liegt, sondern näher beim Elend. Der Erfolgsrausch im Sommer war einer perfekten Symbiose zwischen einem Team und einer ganzen Nation geschuldet. «Notti magiche» für ein Volk, das ihre Helden und die sommerliche Freiheit nach Monaten der Corona-Fesseln gleichermassen feierte – und die Squadra euphorisch zum Titel trug.

Wo sind die Italiener?

Im Herbst und Winter aber kamen die Defizite des Calcio wieder zum Vorschein. Gravina fasste sie am Donnerstag so zusammen: «Die Klubs arbeiten gegen den Verband.» Er kann damit vieles gemeint haben. Sicher ist, dass sich die Profi-Vereine einen Deut um die Entwicklung des Fussballs im Land scheren. Der Nachwuchs wird nicht gezielt gefördert, und dass die Junioren-Auswahlen mit den Besten nach wie vor gut mithalten können, hat auch viel mit einem Reservoir an jungen Fussballern zu tun, das ungleich grösser ist als in den meisten anderen Ländern Europas.

Doch wenn diese Jungen zu den Profis wechseln sollten, kommen sie nur noch vereinzelt weiter. Um die Italiener aufzuzählen, welche Sonntag für Sonntag für die Spitzenvereine Milan, Inter, Napoli oder Juventus auflaufen, braucht man nicht mal alle Finger einer Hand. Doch auch die Mittelschicht des Calcio setzt auf ausländische Arbeitskräfte. Das geht bis hinunter zur Serie B, weshalb der U21-Nationaltrainer Paolo Nicolato diese Woche einen Hilferuf absonderte. Er müsse Spieler aus der Serie C aufbieten, um ein schlagkräftiges Kader zusammenzubekommen. Serie C – das ist die Schwelle zum Amateurfussball.

Wenn auf dieser dünnen Basis dann die schwache Form eines Ciro Immobile (im Nationalteam eigentlich schon immer), eines Lorenzo Insigne (seit ein paar Monaten), eines Nicolo Barella (seit ein paar Wochen) zusammenfällt mit ein paar Ausfällen (Leonardo Bonucci, Giorgio Chiellini, Federico Chiesa, Lorenzo Spinazzola), dann ist der Weg zum Unglück ein kurzer.

Eine verlorene Generation

Italien wird einen langen und auch teuren Weg gehen und neue Stadien und Nachwuchs-Akademien bauen müssen (aber woher kommt im hoch verschuldeten Land das Geld?), um wieder nachhaltig zur Weltspitze zu gehören. Exploits wie der EM-Titel sind immer möglich, aber den Status des italienischen Fussballs spiegelt diese Bilanz besser: WM-Aus in der Vorrunde (2010), WM-Aus in der Vorrunde (2014), WM verpasst (2018), WM verpasst (2022). Italiens Fussball ist eigentlich seit Jahren im Mittelmass verschwunden.

So wächst in Italien gerade eine Generation heran, die nicht weiss, wie es ist, der Nazionale an einer WM zuzujubeln. Der verstorbene, grosse Schriftsteller Andrea Camilleri sagte einst, das einzige an der Weltgeschichte, was die Italiener wirklich interessierte, sei die WM-Geschichte der Squadra Azzurra. Viele Geschichtsdaten müssen die jungen Italiener im Moment nicht neu dazulernen.

Und deshalb blickte die Turiner Zeitung «La Stampa» in ihrem Kommentar zum Scheitern der Azzurri über das Rasenviereck hinaus. «Wenn die Jungen von heute die Begeisterung einer WM nicht mehr kennen, kehren sie und ihre Nachkommen dem Fussball vielleicht ganz den Rücken. Und was kommt dann? Das Nichts! Nur noch ein grosses, dunkles Loch!» Ein wenig Apokalypse musste es dann halt doch noch sein.

sda