Ivan Ergic verbrachte einen grossen Teil seiner Fussballkarriere in der Schweiz, machte fast 300 Spiele für den FC Basel. Mit blue News spricht der ehemalige serbische Nationalspieler über das bevorstehende WM-Duell zwischen der Nati und Serbien, Politik im Fussball und seine Bücher.
Ivan Ergic, wissen Sie schon, wo Sie das Spiel Serbien gegen die Schweiz schauen werden?
Ivan Ergic: Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich es überhaupt schauen werde. Vielleicht aus Neugier. Mit dem emotionalen Hochjazzen eines Spiels als «historisch» kann ich nicht viel anfangen. Das wird nicht nur von der hiesigen Boulevardpresse geschürt, ich sehe auch bei Freunden, die eigentlich vernünftig sind, dass sie dieser Stimmung erliegen.
Es ist ja nicht das erste Mal, Stichwort Doppeladler.
Nein, schon beim letzten Spiel der Schweiz gegen Serbien haben wir gesehen, dass sich der Spruch «ein Fussballspiel ist die Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln» ein bisschen bewahrheitet hat. Ich frage mich immer wieder, wann das endlich aufhört, vor allem auf dem Balkan. Das hat nicht viel mit grossen Emotionen zu tun, wie sie behaupten, sondern mit unguten Affekten.
Welche Rolle spielen die Fussballer dabei?
Leider sind viele Kollegen mit einer einseitigen Kriegsgeschichte aufgewachsen. Sie denken: «Wir sind die Opfer und andere tragen die Schuld.» Dazu kommt, dass das «Nation Building» im Balkan nie zu einem Ende kommt und die Nationalmannschaft eine grosse Rolle dabei spielt. Von Spielern werden patriotische Parolen erwartet. Ein paar Spieler agieren dann nicht gerade geschickt.
Sie selbst haben ja auch für die serbische Nationalmannschaft gespielt. Bei der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland bestritten Sie die drei Spiele der Vorrunde.
Das stimmt. Obwohl ich manchmal so rüberkomme, bin ich nicht ohne Nationalgefühl, aus diesem Grund habe ich mich auch für Serbien entschieden, und nicht für Australien, obwohl ich beide Staatsbürgerschaften habe. Ich weiss also ein bisschen, wovon ich spreche.
Und Sie haben von 2001 bis 2009 beim FC Basel gespielt. Machten sich da die Wunden des Balkan-Kriegs bemerkbar? Sie haben ja zum Beispiel mit dem Kroaten Ivan Rakitic zusammengespielt.
Damals hatten wir über zehn Spieler aus dem ehemaligen Jugoslawien! Nicht ein einziges Mal gab es ein Problem. Es war gegenseitiger Respekt, und oftmals reiner Spass. Natürlich habe ich auch als Captain dafür gesorgt, dass es zwischen uns nie zu ethnischen Problemen kam, obwohl jeder Spieler sicher eine eigene Meinung zum Krieg hatte. Und dann noch eins.
Ja?
Mir war nicht nur bewusst, welche Werte der FCB pflegt, sondern auch, was Basel als Region bedeutet. Basel ist offen, tolerant, multikulturell, es wäre blöd gewesen und wirklich ein importiertes Problem.
Was meinen Sie damit genau?
Es ist lustig zu beobachten, dass Ex-Jugoslawen, Balkaner in ganz verschiedenen Milieus gut miteinander umgehen können, dass das aber nicht immer in unseren Herkunftsländern klappt. Da könnte man wirklich zu einem, von gewissen intellektuellen Kreisen propagierten, aber gefährlichen Schluss kommen, dass wir nur unter «Fremdherrschaft» oder mit Autoritarismus gut miteinander leben können. Ich finde, wir sind schon fähig, unser politisches Schicksal selbst zu gestalten, aber es wird halt vielleicht noch eine Generation dauern.
Der SFV tut alles, um den Ball vor diesem Spiel flach zu halten. Bleibt zu hoffen, dass es auch am Freitagabend einfach ein spannendes Fussballspiel wird. Schaut man als Ex-Profi ein Spiel eigentlich anders?
Es ist ambivalent. Einerseits siehst du als Spieler das, was ein einfacher Zuschauer nicht sehen kann. Andererseits muss man ehrlich zugeben, dass erfahrene Zuschauer gewisse Sachen sogar besser erkennen als der Spieler selbst.
Der Fussball ist anspruchsvoller geworden und so gibt es nun viele Experten.
Schon, aber ich persönlich finde die Entwicklung des Fussballs nicht gut, «das Physische» wird immer stärker. Das Spiel hat sich weiter in Richtung Wissenschaft, und nicht Kunst entwickelt. Leistungsoptimierung und Funktionalität, darum geht es.
Dazu passt, dass Sie mal gesagt haben: «Mir fehlt einfach die Lyrik in unserem Fussball, Epik und Dramatik gibt es ja genug.» Wie meinten Sie das genau?
Ich meinte schlicht die Schönheit des Spiels. Sehen Sie, Trainer, die als grosse Strategen galten, hatten lange behauptet, dass eine hohe Spielkultur mit einem am Resultat orientierten Spiel nicht vereinbar ist. Und dann kam Barcelona. Und dominierte den europäischen Fussball ein Jahrzehnt lang mit einer unglaublichen Kunst, individualistisch und kollektivistisch.
Da spricht einer, der im zentralen Mittelfeld spielte. Wie könnte man diese Schönheit wieder stärker zu einem Wert machen?
Wichtiger als die grossen Strategen sind die Trainer in den Jugendmannschaften und die spielerische Erziehung jedes einzelnen Spielers. Mit Epik und Dramatik verkommt Fussball zum Gladiatoren-Spektakel. Ohne diese Lyrik kann Fussball nicht zu einem Gesamtkunstwerk werden. Den Anspruch an die Spitze habe ich schon. Ich weiss, ich klinge jetzt ein wenig wie ein Fussballromantiker, das mag ich eigentlich gar nicht, aber ich denke so, weil ich eine solche Kunst für möglich halte.
Sie sprechen ja nicht nur von der Lyrik im Fussball. Sie haben nach ihrem Karriereende angefangen zu schreiben, bisher sind in Serbien drei Bände mit Lyrik erschienen. Ist darunter auch ein Gedicht über den Fussball?
Nein. Für mich ist Poesie ein Ort, an dem ich mich emotional und geistig verstecken kann. Ich glaube immer noch an die Unschuld von Poesie. Da kann man sich selbst sein. Obwohl ich mir auch als Spieler einen gewissen Raum erkämpft habe, in dem ich authentisch sein konnte, musste ich viele Kompromisse mit meinem Umfeld und mit mir selbst eingehen. Das will ich nicht, wenn ich schreibe.
Was vielleicht nicht alle wissen: Nach Ihrem Weggang vom FCB sind Sie mit dem kleinen Verein Bursaspor überraschend türkischer Meister geworden. War das, Hand aufs Herz, das tollste Jahr in Ihrer Karriere?
Zusammen mit dem ersten Double für den FCB 2002 und der ersten Champions League mit Basel, war das sicher das tollste Jahr. Bursaspor war besonders, weil wir Underdogs waren, mit einem zehnfach kleineren Budget als die grossen Vereine aus Istanbul. Für mich war der Transfer auch ein bisschen überraschend, er kam sehr plötzlich. Es schien ja, dass ich mit 28 keinen Klub mehr finden würde. Ich galt nämlich unter den Trainern als «kompliziert».
Anders als noch zu Ihrer Zeit, als Sie wirklich eine Ausnahme waren, und eben als «kompliziert» galten, gehört es in Katar zum guten Ton, wenn sich die Spieler politisch zu Wort melden. Das betrifft vor allem kulturelle Fragen von Diversität oder Menschenrechten. Kritiker sprechen von «Gratismut». Wie beurteilen Sie das?
Für mich ist jede wichtige gesellschaftliche Erscheinung politisch. Also auch der Sport generell. Ich freue mich, wenn ich Sportler sehe, die sich trauen, ihre politische Meinung zu äussern. Aber das muss eine durchdachte und informierte Meinung oder Einstellung sein.
Viele Fussballfans empfinden einen tiefen Widerspruch. Sie lieben das Spiel, aber sie verachten die Hyperkommerzialisierung des Fussballs. Kommt Ihnen dieser Widerspruch vertraut vor?
Natürlich. Wie viele Fans fühlte auch ich mich als Spieler oft machtlos. Ich habe zuerst auf dem Platz gespürt, dass man spielerisch eingeschränkt ist, und daraus entwickelte ich ein Bewusstsein für Gesetzlichkeiten und Imperative, die einen Spieler als kreativen Menschen einengen, eben weil nur Sieg und Erfolg zählen.
Dann wurde mir das andere Problem bewusst: Wie kann man als Profifussballer kritisch gegenüber gesellschaftlichen Fehlentwicklungen sein? Kannst du sagen, dass Kapitalismus Kriege führt, unsere Erde vernichtet, und am Schluss also auch den Fussball selber kaputt macht, und gleichzeitig dein gutes Gehalt damit verdienen? Denn es ist ja immer noch so, auch wenn die Sprache heute vieles weichspült: Ein Kapitalist lebt von der Ausbeutung der Arbeiter, und wir Fussballer sind im Grunde genommen die Arbeiteraristokratie.
Und wie haben Sie versucht, mit diesem Problem umzugehen?
Ich glaube, ich habe versucht, ehrlich und antikonformistisch zu agieren, und ich glaube, ein Teil unserer Fans und die Öffentlichkeit haben mir das geglaubt. Ich habe wirklich das Glück gehabt, dass ich mit dem Klub und der Stadt Basel eine tiefere Beziehung entwickelt habe, nicht nur ein Arbeitgeber-Arbeitnehmer Verhältnis, da war schon mehr.
Dieses «Mehr» zeigte sich in ihrem Verhältnis zur Kurve. Das war eine grosse Liebe. Aber Sie haben auch gesagt, es wäre schön, wenn die Muttenzerkurve weniger machohaft wäre, diverser, mehr Frauen.
Ich habe mich mit gewissen Werten der Kurve identifiziert, vor allem mit der Einstellung, dass Erfolg nicht alles im Leben ist ...
... «Erfolg isch nid alles im Läbe», einer der wichtigsten Songs der FCB-Ultras ...
... sondern auch Loyalität wichtig ist. Super finde ich auch, dass es in der Schweiz keinen Star-Kult gibt, weil Verehrung und übertriebene Bewunderung für mich eine Art Entfremdung sind. Natürlich habe ich die Sache mit der mangelnden Anzahl von Frauen bemerkt, und mit unseren Fans oft darüber gesprochen. Aber so ist es überall. Ich verstehe nicht, warum so viele europäische Fans den FC Liverpool und andere ursprüngliche Arbeitervereine romantisieren. Meine Frage ist immer, wenn Fussball damals für die Arbeiterklasse einen emanzipatorischen Charakter hatte, wo sind dann jetzt Frauen? Das wäre emanzipatorisch. Aber leider ist es so, dass der Fussball vielerorts die letzte Bastion der Männlichkeit ist.
Immer mehr spielt ja Pyrotechnik in der Kurve eine Rolle. Ist das auch so ein Ritual der Männlichkeit?
Sehe ich nicht so. Wenn es um Pyrotechnik geht, muss ich zugeben, dass ich selber ein paar Mal gezündet habe, natürlich im sicheren Rahmen. Ich hatte nie etwas gegen den Pyro, aber grundsätzlich bin ich gegen alles was gefährlich oder eben dramatisch sein kann.
Verfolgen Sie die Entwicklung des FCB noch?
Ich verfolge sie schon. Aber ich gehe selten an Spiele.
Jetzt mal ehrlich, interessieren Sie sich überhaupt für diese Weltmeisterschaft?
Nicht besonders, natürlich bin ich immer noch ein grosser Fussballliebhaber, aber wie vielen Liebhabern ist auch mir diese WM unsympathisch. Mich interessieren gerade mehr die politischen Zusammenhänge.
Sie pendeln ja zwischen Basel und Belgrad. Ich denke, dass der Krieg gegen die Ukraine in Serbien stärker im Bewusstsein ist, und Sie vielleicht auch deshalb in diesen Tagen mit anderen Dingen mehr beschäftigt sind als mit Fussball.
Natürlich spüre ich in Belgrad, dass der Krieg viel näher ist. Man trifft viele Russen und Ukrainer auf den Strassen. In Belgrad selbst gibt es mehr als 100'000 Menschen aus Russland.
Serbien nimmt damit eine Ausnahmestellung ein.
Wir haben im Moment eine der schlimmsten Regierungen der letzten 30 Jahre. Aber was sie gut macht, ist, dass sie versucht neutral zu bleiben. Obwohl es oft um reinen Populismus geht, kann man nicht einfach das Volksempfinden ignorieren. Generell ist Serbien geistig, aber auch sicherheitspolitisch, wirtschaftlich, kulturell zwischen Europa und Russland gespalten. Da ist auch die Kosovo-Frage eine offene Wunde. Ich bin Realist, in der Geopolitik geht es oft viel mehr um nationale Interessen als um politische Werte oder Sentimentalismus. Und da ist noch was.
Ja?
Ich sehe eine gewisse Weltangst, befeuert durch die Angst vor einem Atomkrieg, und auch in der Schweiz eine Besorgnis und Beunruhigung. Das einzige, was ich daran gut finde, ist, dass das Bewusstsein wächst, dass man sich nicht abschirmen oder isolieren kann, um der Verantwortung zu entkommen. Das gilt auch fürs Klima.
Hätten Sie vor diesem Hintergrund richtig gefunden, wenn die FIFA gesagt hätte: In solchen Zeiten kann man keine Weltmeisterschaft durchführen?
Es gibt doch den Spruch: «Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.» Man kann dem hinzufügen: Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Fussballs. Ich finde es wirklich grotesk. Aber wie hat der IOC-Präsident Avery Brundage nach dem Attentat auf die israelischen Sportler in München 1972 gesagt? «The show must go on.»
Womit beschäftigen Sie sich neben dem Krieg heute?
Ich bin in Serbien, aber auch in Basel in die ökologische Bewegung involviert. In Serbien führen wir den Kampf gegen Verschmutzung und vor allem den Lithium-Abbau. Ich freue mich, dass das ökologische Bewusstsein global wächst. Die grosse Frage, die mich beschäftigt, ist, ob die globale Jagd nach Rohstoffen und Profiten mit der grünen Umweltpolitik versöhnbar ist.
Wäre ein ökologischer Profifussball möglich?
Wenn wir diese Weltmeisterschaft anschauen, oder ähnliche Ereignisse, können wir schon dystopische Züge sehen. Künstliches Klima, High-Tech, perfekte Security, omnipotentes Marketing, exhibitionistisch stilisierte Fussballer etc. Aber ich finde ja, dass alles möglich ist. Dafür muss sich das bisherige Weltsystem allerdings grundlegend verändern. Fussball lässt sich nicht humanisieren ohne eine tiefe Umwandlung der bisherigen Ordnung.
Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?
«Talking to My Daughter about the Economy: A Brief History of Capitalism» von Yanis Varoufakis, dem ehemaligen griechischen Finanzminister.