Gastkommentar Fredy Bickel: «Für Serbien geht es vor allem um den Nationalstolz»

Fredy Bickel

1.12.2022

Gegen Brasilien gab es eine knappe Niederlage, gegen Serbien muss für die Nati mindestens ein Unentschieden her.
Gegen Brasilien gab es eine knappe Niederlage, gegen Serbien muss für die Nati mindestens ein Unentschieden her.
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Die Serben werden am Freitag gegen die Schweiz das Spiel ihres Lebens abrufen. Die Nati ist gefordert, hat aber alle Mittel, um den Charaktertest zu bestehen. Ein Kommentar von blue Sport Experte Fredy Bickel.

Fredy Bickel

Eigentlich hat die Schweizer Nationalmannschaft bei ihren bisherigen zwei Auftritten an den Weltmeisterschaften in Katar ein durchaus positives Bild abgegeben. Reife, taktisch kluge Leistungen, verbunden mit viel Disziplin und mannschaftlicher Geschlossenheit. Trotzdem besteht die Gefahr, dass sich das Team rund um Trainer Murat Yakin am Freitagabend schon nach der Gruppenphase vom Turnier verabschieden muss. Letztmals einen solchen Tiefschlag an einem Endturnier musste die Schweizer Nationalmannschaft 2010 in Südafrika hinnehmen.

Schafft nach Brasilien auch die Schweiz den Sprung ins Achtelfinale?

Wie schon fast selbstverständlich unter Murat Yakin, wurde die Schweizer Nationalmannschaft auch für das Spiel gegen Brasilien wieder hervorragend eingestellt. Sie gingen die Partie so an, wie es einzig richtig ist, wenn man sich gegen eine der besten Mannschaften der Welt am Ende des Spiels mindestens einen Punkt gutschreiben lassen will. Mit dem Schliessen der Räume lässt sich verhindern, Spielfreude der Südamerikaner aufkommen zu lassen. Wichtig dabei ist, sich in der eigenen Hälfte innerhalb von dreissig Metern kompakt aufzustellen und solidarisch aufzutreten.

Nur wenn Tore verhindert werden und die vielleicht eine Chance, die sich irgendwann aus dem Spiel heraus ergeben wird, ausgenützt werden kann, ist es einer Schweizer Nationalmannschaft möglich, gegen eine solche Anhäufung von Weltfussballern bestehen zu können. Lange Zeit hat es hervorragend ausgesehen. Obwohl Rieder seine Unerfahrenheit nicht immer verbergen konnte, Freuler ungewohnt unsicher begann und Sow Mühe hatte, seine Position hinter Embolo zu finden.

Keine Komplexe, aber ein gewisser Ärger

Fredy Bickel
Bild: blue Sport

Fredy Bickel ist Fussballmanager und ehemaliger freischaffender Journalist. Als Sportchef führte er den FC Zürich zu drei Meistertiteln, einem Cupsieg und einer Champions-League-Teilnahme. Er war zudem wichtiger Wegbereiter der Rückkehr des BSC Young Boys an die Spitze des Schweizer Fussballs nach über drei Jahrzehnten. Heute arbeitet Bickel unter anderem als Fussball-Experte für blue Sport.

Schlussendlich verliessen die Brasilianer den Platz als verdiente Sieger. In den letzten Minuten haben sie zudem gezeigt, wie unkontrollierbar ihr Spiel für den Gegner wird, wenn dieser mehr Risiko eingehen muss, die Räume öffnet und sich nicht nur darauf konzentriert, in der Defensive kompakt zusammenzubleiben.

Die Schweizer konnten das Spielfeld nach der 0:1-Niederlage wohl ohne Komplexe, dafür aber nicht ohne einen gewissen Ärger verlassen. Ärger über sich selbst, weil das angestrebte, positive Resultat durchaus hätte erreicht werden können.

Ob es daran gelegen hat, dass Shaqiri und Okafor nicht mittun konnten? Wurde Vargas vielleicht etwas zu früh vom Platz genommen? Oder, weil Steffen nach seiner Einwechslung nicht mehr die gleiche Solidarität für die Mannschaft aufbringen konnte, wie es zuvor und an seiner Stelle Rieder geschafft hat? Egal. Es muss nicht genauer ergründet werden und «Was wäre, wenn»-Spekulationen bringen nicht nur im Fussballsport herzlich wenig.

Es droht die Rückreise

Trotz so vielen erfreulichen Eigenheiten, die uns diese Mannschaft auch an diesem Turnier vorgesetzt hat, liegt es durchaus im Bereich des Möglichen, dass die Schweizer die Rückreise nach Europa bereits am kommenden Wochenende antreten müssen. Die Enttäuschung wäre riesig. Sowohl innerhalb des Teams als auch in der breiten Öffentlichkeit. Zur Stunde wäre eine solche Schmach auch absolut unverdient.

Das heute wohlwollende Zeugnis zu unterzeichnen, liegt in den Händen der Eidgenossen. Diese Chance nicht zu verpassen, ist die Erwartung an das Team. Murat Yakin wird nochmals verdeutlichen, dass er sich in der taktischen Ausrichtung der Mannschaft auf Höchstniveau befindet. Sein Team wird er verändert und bestimmt nicht auf ein erwartet reichendes Unentschieden spielen lassen.

Ein, zwei zentrale Mittelfeldspieler werden offensiveren Spielern weichen müssen. So wird versucht werden, das Spieldiktat sofort in die eigenen Hände zu nehmen, dominant aufzutreten und dem Gegner dabei aufzeigen, dass man bereit für diese Herausforderung ist. Es wird eine grosse Herausforderung sein. Mehr Mut anstelle von Vorsicht ist gefragt. Auch wenn Serbien über eine wirklich gute Mannschaft verfügt und zudem starke Individuallisten in ihren Reihen weiss.

Aleksandar Mitrovic (9) ist einer von vielen serbischen Top-Fussballern.
Aleksandar Mitrovic (9) ist einer von vielen serbischen Top-Fussballern.
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Erinnerungen an 2018 werden wach

Zusätzlich konnte man im Vorfeld der Weltmeisterschaften auch erfahren, welches für sie die wichtigste Partie in Katar sein wird: das Spiel gegen die Schweiz. Dabei geht es mehr um den Nationalstolz als um die Möglichkeit, sich für die Achtelfinals zu qualifizieren. Es ist nicht vergessen, wie die Eidgenossen den Sieg an der Weltmeisterschaft 2018 gegen Serbien gefeiert haben. Dieser Stachel sitzt tief! Der Doppeladler-Jubel war eine dümmliche Aktion. Mit dem Wissen der einstigen Herkunft von einzelnen Spielern der Schweizer, deren eigenen Geschichten und den Emotionen nach einem Erfolgserlebnis, sollte ihnen daraus trotzdem kein Strick gedreht werden.

Und die Bestrafung für die damaligen Geschehnisse wird am Freitagabend eh allen im Hinterkopf sein. Dies in Form von einem Gegner, der bis in die Haarspitze motiviert auftreten und um jeden Zentimeter verbissen kämpfen wird. Die Serben wollen am Freitag ihr Spiel des Lebens abrufen.

Achtelfinal-Quali wäre ein ganz starker Leistungsnachweis

Die Mannschaft von Yakin hat gezeigt, dass sie mit den auf sie zukommenden Aufgaben umgehen können. Sie tritt diszipliniert auf, wirkt klar, reif und abgeklärt. Sie ist erwachsen geworden. Eindrücklich gezeigt ebenfalls im Spiel gegen Kamerun: Ein Startspiel gegen einen unbequemen, unberechenbaren Gegner zu gewinnen – verbunden mit der eigenen Zielsetzung, dem Überstehen der Gruppenphase – ist für kein Team dieser Welt einfach.

Das Team wird bereit sein und es ist ihnen bestimmt bewusst, was sie in der kommenden Partie erwartet. Es wird aufgezeigt werden müssen, dass die kompletteste und somit wohl beste Schweizer Nationalmannschaft aller Zeiten am Werk ist. Eine Qualifikation für die Finalspiele wäre aufgrund der schwierigen Gruppe und den aus verschiedenen Gründen denkbar schweren Aufgaben gegen Kamerun und Serbien ein ganz, ganz starker Leistungsausweis. Gelingt es nicht, ist der Beweis zu liefern, wie die Mannschaft mit vielleicht auch undifferenzierter, harter Kritik umgehen kann. Zudem würde sich zeigen, wie solidarisch man untereinander wirklich ist und wie gut zusammen Tiefschläge verarbeitet werden können.

Nun aber endgültig genug mit diesem «Was wäre, wenn» … lassen wir die Ereignisse auf uns zukommen und belassen es beim Versenden von Gedanken des Vertrauens in unsere Nationalmannschaft nach Katar. Sie werden es schon richten.

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