35 Jahre TschernobylDann kam die Wolke, nur nicht in die DDR
Von Andreas Fischer
25.4.2021
In der DDR wurde mit absurden Parolen über den Super-GAU von Tschernobyl vor 35 Jahren berichtet: Es sei alles unter Kontrolle, und die radioaktive Wolke mache einen Bogen um das Land. Zum Glück gab's Westfernsehen.
Von Andreas Fischer
25.04.2021, 13:50
26.04.2021, 14:24
Andreas Fischer
Schon aus Prinzip war der 1. Mai in der DDR ein strahlender Tag. Am «internationalen Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse» zogen die Werktätigen traditionell ordentlich aufgereiht an der Spitze der Staatspartei SED vorbei. Nicht nur in Berlin, auch in der Provinz. Natürlich erfüllte ich, damals fast elf Jahre alt, 1986 in meiner kleinen ostdeutschen Heimatstadt diese staatsbürgerlichen Pflichten. So wie jedes Jahr. Zwar nicht freiwillig, aber sie gehörten zum Leben dazu.
Die Sache dauerte auch nicht lange, und den Rest des Tages konnte ich spielen. Draussen. Buden bauen am «Gelben Weg» und ein bisschen kicken. Alles ganz normal für mich. Dabei war fünf Tage zuvor, am 26. April 1986, in Tschernobyl der Reaktor eines Atomkraftwerks explodiert. Dass etwas passiert war, wusste ich. Was passiert war, wusste ich nicht.
Glücklich sind die Unwissenden
«Aktuelle Kamera» hiess die Nachrichtensendung in der DDR – aktuell war allerdings bei Tschernobyl nicht viel. Das Staatsfernsehen hatte mit ein paar Tagen Verspätung lediglich ein paar knappe Sätzen übrig – es habe eine «Havarie» gegeben, die Arbeiter im sowjetischen Bruderstaat hätten die Situation unter Kontrolle, besondere Vorsichtsmassnahmen seien nicht notwendig.
Ich erinnere mich noch heute daran, dass ich das alles glaubte. Mit zehn Jahren durfte ich das auch. Ich war damals ein guter Schüler, engagierte mich bei Wertstoffsammlungen und der Timur-Hilfe. Wir Pioniere, so hiess die staatlich verordnete Kinderorganisation der DDR, kümmerten uns dabei um ältere Menschen, halfen beim Einkaufen und leisteten Gesellschaft. Das war zwar ein bisschen pflichtfreiwillig. Aber Frau Sareika aus der Clara-Zetkin-Strasse freute sich immer, mich zu sehen, und ich freute mich, weil sie mir manchmal ein Stück West-Schokolade zusteckte.
Ich empfand meine Kindheit in den 1980er-Jahren meistens als unbeschwert. Tschernobyl änderte daran zunächst nichts. Glücklich sind die Unwissenden. Doch irgendwann ahnte ich, dass etwas nicht stimmte. Und mit etwas Verspätung kam sie dann doch, die Angst. Sie hatte Albträume im Gepäck.
Mit dem Westfernsehen kam die Wolke – und die Angst
Wir haben damals zu Hause heimlich Westfernsehen geschaut. Das war eigentlich verboten, aber meine Eltern fingen Mitte der 1980er-Jahre an, das Verbot zu ignorieren. «Ein Colt für alle Fälle», «Tom & Jerry», «Hart aber herzlich» – nach dem Vorabendprogramm brachten «heute» oder die «Tagesschau», das weiss ich nicht mehr genau, Anfang Mai eine Wolke in unser Wohnzimmer. Eine Wolke voll mit nuklearer Strahlung: für mich der Inbegriff meiner grössten Ängste.
Als Kind des Kalten Krieges fürchtete ich mich damals vor nichts mehr, als verstrahlt zu werden. Ich ging öfter mit angeschaltetem Radio ins Bett, mit so einem kleinen schwarzen Gerät aus sowjetischer Produktion, das nur Mittel- und Langwelle konnte und zwei weisse Drehschalter an der Seite hatte. Ich hoffte, als Erster zu erfahren, wenn die Atombomber losfliegen.
Ich hatte häufiger Albträume, in denen ich mich bei Raketenangriffen unter Holzverschlägen versteckte, immer wieder. Es gab kein Entkommen, nur schweissnasses Hin- und Herwälzen. Beim Aufwachen knarzte das Radio beruhigend – keine Atombombe, keine radioaktive Strahlung, alles gut.
Die Strahlenwolke aus dem Westfernsehen machte mir wirklich Angst. In der BRD wuschen sie Anfang Mai ihren Salat und tranken keine Kuhmilch mehr, sie hatten Angst vor dem Regen. Auch in West-Berlin. In Ost-Berlin, auf meiner Seite der Mauer hingegen sollte alles in Ordnung sein? Das wollte ich gern glauben (und sollte es), aber ich konnte nicht.
Die Zeit heilt eben doch nicht alle Wunden
Klar, irgendwann war die «Havarie» von Tschernobyl auch in der DDR ein Super-GAU, und irgendwann wurde die Wolke auch in der DDR nicht mehr geleugnet. Ich habe aber noch Grafiken vor Augen, die wahrscheinlich in der «Aktuellen Kamera» gezeigt wurden, um zu illustrieren, dass die Wolke einen Bogen um die DDR machte. Ich verkroch mich häufiger mit meinem kleinen schwarzen Radio unter der Bettdecke.
Merkwürdig, wie die Erinnerung funktioniert, und dass die Ängste von damals immer noch präsent sind. In 35 Jahren heilt die Zeit nicht alle Wunden. Wie schlimm Tschernobyl wirklich war, das habe ich damals nicht begriffen und ehrlich gesagt, kann ich es mir auch heute noch nur schwer vorstellen. Wahrscheinlich, weil die konkreten Berührungspunkte fehlen.
Die gab es nur einmal: 2011 war ich das erste Mal im Bayerischen Wald. Mir gingen die Augen über. So viele Steinpilze, Maronen, Pfifferlinge hatte ich noch nie gesehen. Ich hätte immense Mengen Pilze sammeln können. Doch um den Bayerischen Wald hatte die Tschernobyl-Wolke keinen Bogen gemacht. Die Menschen dort rühren die Pilze seither nicht mehr an.
Infrarotbilder: Gespenstisches Tschernobyl
Mit einem Infrarotfilter gelangen dem Fotografen Vladimir Migutin beeindruckende Aufnahmen von Tschernobyl und Umgebung: Unter diesem Sarkophag steht das explodierte Atomkraftwerk.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Das Duga-Radarsystem wurde als Teil des sowjetischen Frühwarnsystems vor Raketenangriffen verwendet.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Das 26 Meter hohe Riesenrad im Vergnügnungspark von Prypjat steht seit 30 Jahren still.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Auf einem Weg der Erinnerung stehen die Schilder aller Ortschaften, die nach der Nuklearkatastrophe evakuiert wurden.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Menschen hat er keine gesehen: Doch Fotograf Vladimir Migutin entdeckte in der Todeszone immer wieder Tiere, wie diesen zutraulichen Fuchs, der von Touristen den Namen Simon verpasst bekam.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
In der Konzerthalle von Prypjat wird schon lange keine Musik mehr gespielt.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Auch der Autoscooter im Vergnügungspark steht still.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
«The Bucket» heisst der riesige Baggergreifarm, der einst auf dem radioaktiv verseuchten Gelände zum Einsatz kam.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Ein Trolleybus rostet in vor sich hin.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Vor dem Super-Gau von Tschernobyl am 26. April 1986 lebten in Prypjat knapp 50'000 Menschen. Heute ist der Ort eine Geisterstadt.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Nur in der Erinnerung ist die Schwimmhalle von Prypjat noch mit Leben erfüllt.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Ebenso die Sporthalle.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Die Natur freilich erobert sich den Ort zurück.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Schmetterlinge geniessen die ungestörte Ruhe, ahnungslos ob der Tragödie von 1986.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Familien mussten damals das Gebiet nach der Reaktorkatastrophe Hals über Kopf verlassen. Zurück blieben stumme Zeugen des nuklearen Exodus.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Vladimir Migutin (32) hat sich auf Infrarot-Fotografie spezialisiert, eine Technik, die es erlaubt, feinste Details herauszuarbeiten.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Migutin lebt in Israel: Sein Trip in die verbotene Zone von Tschernobyl sei eine spontane Idee gewesen, sagt er.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Infrarotbilder: Gespenstisches Tschernobyl
Mit einem Infrarotfilter gelangen dem Fotografen Vladimir Migutin beeindruckende Aufnahmen von Tschernobyl und Umgebung: Unter diesem Sarkophag steht das explodierte Atomkraftwerk.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Das Duga-Radarsystem wurde als Teil des sowjetischen Frühwarnsystems vor Raketenangriffen verwendet.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Das 26 Meter hohe Riesenrad im Vergnügnungspark von Prypjat steht seit 30 Jahren still.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Auf einem Weg der Erinnerung stehen die Schilder aller Ortschaften, die nach der Nuklearkatastrophe evakuiert wurden.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Menschen hat er keine gesehen: Doch Fotograf Vladimir Migutin entdeckte in der Todeszone immer wieder Tiere, wie diesen zutraulichen Fuchs, der von Touristen den Namen Simon verpasst bekam.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
In der Konzerthalle von Prypjat wird schon lange keine Musik mehr gespielt.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Auch der Autoscooter im Vergnügungspark steht still.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
«The Bucket» heisst der riesige Baggergreifarm, der einst auf dem radioaktiv verseuchten Gelände zum Einsatz kam.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Ein Trolleybus rostet in vor sich hin.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Vor dem Super-Gau von Tschernobyl am 26. April 1986 lebten in Prypjat knapp 50'000 Menschen. Heute ist der Ort eine Geisterstadt.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Nur in der Erinnerung ist die Schwimmhalle von Prypjat noch mit Leben erfüllt.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Ebenso die Sporthalle.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Die Natur freilich erobert sich den Ort zurück.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Schmetterlinge geniessen die ungestörte Ruhe, ahnungslos ob der Tragödie von 1986.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Familien mussten damals das Gebiet nach der Reaktorkatastrophe Hals über Kopf verlassen. Zurück blieben stumme Zeugen des nuklearen Exodus.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Vladimir Migutin (32) hat sich auf Infrarot-Fotografie spezialisiert, eine Technik, die es erlaubt, feinste Details herauszuarbeiten.
Bild: Dukas / Vladimir Migutin
Migutin lebt in Israel: Sein Trip in die verbotene Zone von Tschernobyl sei eine spontane Idee gewesen, sagt er.