Arktis-Bohrkern kommt nach Bern «Weil das Eis so kostbar ist, können wir kein Risiko eingehen»

Philipp Dahm

19.1.2025

Forschende prüfen im Rotlicht einen Eisbohrkern in der Antarktis.
Forschende prüfen im Rotlicht einen Eisbohrkern in der Antarktis.
PNRA/IPEV

Ein Eisbohrkern, der den Blick zurück in mindestens 1,2 Millionen Jahre Klimageschichte erlaubt – diesen Rekord hat das internationale Projekt Beyond EPICA erreicht, an dem auch das Team von Hubertus Fischer von der Universität Bern beteiligt ist. Der Professor erklärt hier ihre Forschung.

Philipp Dahm

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  • Ein internationales Team von Forschenden hat in der Antarktis einen Eisbohrkern geborgen: Beteiligt ist auch die Universität Bern.
  • Der beteiligte Professor Hubertus Fischer erklärt, dass der Blick zurück in die Klimageschichte wohl nicht nur 1,2 Millionen Jahre zurückgeht, sondern wahrscheinlich noch weiter.
  • Er erklärt, warum der richtige Bohrpunkt so schwer zu finden ist, wie der Eisbohrkern verteilt wird und wer was untersucht.

Herr Professor Fischer, sind Sie gerade aus der Antarktis zurückgekehrt?

Ich persönlich war nicht in der Antarktis dieses Jahr, aber zwei meiner Mitarbeiterinnen. Insgesamt sind 16 Personen von verschiedenen Instituten im Feld. Zum Beispiel vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven kommen viele, da diese die Bohrungen federführend durchführen. Vor Ort sind Forschende aus Ländern wie Italien, Frankreich, Dänemark und der Schweiz

So tief wie sie hat bisher noch keiner gebohrt?

«So tief» darf man gar nicht sagen. Es gibt Eiskerne aus tieferen Lagen. Aber es gibt keinen Eiskern, der kontinuierlich so altes Eis ergibt. Früher hat man versucht, immer zu den dicksten Stellen des Eises zu gehen. Dann hat man meistens Schmelzen am Untergrund, weil es einen Geowärmefluss gibt, der das Eis am Felsbett von unten wie eine Kochplatte aufheizt. Natürlich ganz wenig: Das sind nur circa 50 Milliwatt pro Quadratmeter. Aber wenn das Eis zu dick ist, dann liegt auf dem Felsbett quasi so viel Isolation drauf, dass das Eis am Felsbett so warm wird, dass es anfängt zu schmelzen, und dann ist das alte Eis weg.

Der Ort der Bohrung ist also entscheidend?

Das war genau das Wichtige in unserem Projekt: einen Punkt zu finden, der möglichst dick ist, aber nicht zu dick, sodass die Temperatur immer noch unter minus 2 Grad Celsius ist, und ein Bohrpunkt mit geringer Niederschlagsrate, damit man möglichst altes Eis in der Tiefe hat. Und davon gibt es nur sehr wenige Punkte in der Antarktis

Der neue Eiskern, der aus einer Tiefe von bis zu 2'800 Metern geborgen wurde.
Der neue Eiskern, der aus einer Tiefe von bis zu 2'800 Metern geborgen wurde.
Bild: Mulvaney/PNRA/IPEV

Warum ist wenig Niederschlag besser?

Je weniger Niederschlag man hat, desto mehr Jahresschichten gibt es im Eiskern. Wir bohren von oben nach unten durch, und je tiefer wir kommen, desto älter wird das Eis. Das Gletschereis ist ein plastisches Material – das heisst, es deformiert sich. Die Schichtdicken werden nach unten in der Vertikalen ausgedünnt und in der horizontalen Richtung ausgedehnt. Dadurch nimmt das Alter mit der Tiefe dann auch noch viel schneller zu und das Eis fliesst quasi von dem Punkt, an dem wir bohren, ganz langsam zur Küste und irgendwann bricht es dann dort in Hunderttausenden bis Millionen von Jahren als Eisberg ab.

Zur Person
Bild: Uni Bern/Adrian Moser

Hubertus Fischer ist Professor für Experimentelle Klimaphysik und Leiter der Abteilung für Klima- und Umweltphysik und Wissenschaftlicher Beirat und Gruppenleiter am Oeschger Zentrum für Klimaforschung an der Universität Bern.

Woher wissen Sie denn eigentlich, wie alt das Material aus einer bestimmten Tiefe ist?

Unser Eiskern ist 2800 Meter lang. Das alte Eis mit 1,2 Millionen Jahren hat man in 2485 Meter Tiefe gefunden. Woher wir wissen, wie alt es ist? Wir haben im Feld erste Messungen gemacht, mit der man die klimatische Temperatur am Bohrpunkt rekonstruieren kann. Die waren so eindeutig, dass wir die Eiszeit-Warmzeitzyklen abzählen und mit anderen Klimaarchiven vergleichen konnten – zum Beispiel Meeressedimenten, die es über diesen Zeitbereich gibt. Die sehen wirklich bis auf den Tupfen gleich aus. Das heisst, wir wissen genau, in welchem Zeitintervall wir sind.

Wie kommen die Bohrkerne nun nach Europa?

Die Eiskerne werden jetzt zurücktransportiert. Sie kommen in einem speziellen minus-50-Grad-Kühlcontainer. Davon haben wir zwei, die beide mit dem italienischen Forschungsschiff Laura Bassi nach Italien transportiert werden. Der eine wird gefüllt, der andere fährt auf dem Schiff leer mit. Wenn einer der Container Probleme macht, kann man die Proben noch in den anderen umziehen. Beide Kühlcontainer haben ein doppeltes Kühlaggregat. Wir haben also doppelte Redundanz: Weil das Eis so kostbar ist, können wir kein Risiko eingehen. Nach der Ankunft in Italien werden die Container mit Lastwagen nach Bremerhaven transportiert.

Der Spezial-Container wird auf die Laura Bassi verladen.
Der Spezial-Container wird auf die Laura Bassi verladen.
PNRA/IPEV

Die deutschen Kollegen bekommen alles?

Nein, die europäischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler treffen sich im Juni und Juli dort, um das Eis zu zerschneiden. Die Einzelproben werden in unterschiedliche Kisten verpackt und an die verschiedenen Institute verteilt. Im August kommt ein wichtiger Teil des Eises dann in Bern an und wir führen dann vor allem Gasmessungen zum Beispiel der Treibhausgaskonzentrationen durch.

Wie läuft das mit der Verteilung ab?

Es gibt natürlich einen Wissenschaftsplan, der vorher schon festgelegt, welche Ziele wir verfolgen. Unser Institut ist spezialisiert auf Gase, zum Beispiel Treibhausgase. Andere sind spezialisiert auf den Temperatur-Parameter. Da benutzt man stabile Isotope des Wassers. Die einen, zum Beispiel wir, untersuchen auch chemische Bestandteile, die im Eis gelöst sind, die anderen messen kosmogene Isotope. Jeder hat seine Spezialität. Um den gesamten Wissenschaftsplan abzudecken, brauchen wir auch viele Partner. Es sind so viele Tausende von Proben, dass die ein Labor alleine auch gar nicht messen kann. Das heisst, man setzt sich vorher zusammen und bespricht: Wer macht was? Wie kriegt man die beste Qualität?

Besteht die Gefahr, dass der Bohrkern uralte Viren enthält, die die Erde erneut heimsuchen könnten?

Im Eis in der Vergangenheit gibt es wahrscheinlich auch Dinge, die es heute nicht mehr gibt. Man muss aber dazu sagen: Die Antarktis ist natürlich der sauberste Ort, den man sich vorstellen kann. Also wenn man da krank wird, dann nur, weil man ein Virus einschleppt. Wenn man gesund hinkommt und drei Monate dort ist, wird man nicht krank. Das war in den letzten 1,2 Millionen Jahren wohl auch so. Es ist wirklich das einzige Reinluft-Gebiet der Erde, das wir noch haben.

Bohrkerne werden in einer Höhle eingelagert.
Bohrkerne werden in einer Höhle eingelagert.
PNRA/IPEV

Finden sich Sporen oder Pollen in Eiskernen?

Prinzipiell sind die natürlich in Eisbohrkernen auch drin, aber die Antarktis ist so weit weg, dass man quasi keine Pollen findet. In alpinen Eiskernen etwa aus der Schweiz oder auch in Eis aus Grönland kann man was entdecken, aber es ist nicht viel.

Was für ein Klima erwarten Sie vor 1,2 Millionen Jahren?

Die eigentliche wissenschaftliche Frage ist die nach dem mittelpleistozänen Übergang. Wir kennen hier im Alpenraum natürlich die normalen Eiszeitzyklen: Etwa alle 100'000 Jahre gab es eine Eiszeit. 80'00 Jahre ist es kalt, und zwischendrin gibt es mal 10'000 bis 20'000 Jahre eine Warmzeit, so wie wir sie haben. Vor 1,2 Millionen Jahren war das anders. Da gab es alle 40'000 Jahre eine Warmzeit. Die Eiszeiten waren aber nicht so ausgeprägt. Also das Eisvolumen war nicht so gross wie in den letzten 800'000 Jahren. Dafür haben sie schneller hin und her fluktuiert. Und man weiss eigentlich nicht, warum.

Wie entstehen eigentlich Eiszeiten?

Die Eiszeiten werden prinzipiell dadurch verursacht, dass sich die Erdumlaufbahn-Parameter ändern und deswegen mehr oder weniger Energie von der Sonne kommt. Aber diese Änderung der Erdumlaufbahn-Parameter war in den letzten paar Millionen Jahren immer ähnlich. Das heisst, es muss interne Feedbacks auf der Erde selber geben, die dazu geführt haben, dass es mehr Eis gab. Und einer der üblichen Verdächtigen ist natürlich die CO₂-Konzentration.

Luftaufnahme des Camp Little Dome C des internationalen Teams von Forschenden in der Antarktis.
Luftaufnahme des Camp Little Dome C des internationalen Teams von Forschenden in der Antarktis.
PNRA_IPEV

Wie wirkt die sich aus?

Wenn sich die CO₂-Konzentrationen zum Beispiel geologisch über die Zeit ein bisschen reduziert, würde das dazu führen, dass im Prinzip das Klima kälter geworden ist und deswegen möglicherweise solche längeren und umfangreichere Eiszeiten entstanden sind. Das kann man aber nur bestätigen oder falsifizieren, wenn man die CO₂-Konzentration messen kann, und die kann man eben nur an antarktischen Eisbohrkernen messen.

Um daraus Rückschlüsse auf unser Klima ziehen zu können.

Es ist wichtig zu verstehen, wie solche langfristigen Änderungen in der Vergangenheit zustande kam und ob zum Beispiel Klimamodelle, die wir jetzt benutzen, für die zukünftige Voraussage, ob die auch in der Lage sind, diese Vergangenheit zu erklären. Das ist quasi eine Validierung: Man kann testen, wie gut die Modelle sind.

Reicht ihr Blick 1,2 Millionen Jahre zurück oder noch weiter?

Wir konnten bis 2485 Metern diese Klimazyklen eindeutig zuordnen. Das heisst, wir sind uns jetzt sicher, dass wir auf jeden Fall 1,2 Millionen Jahre unverfälschte Klimageschichte haben. Wir haben darunter noch viel mehr Eis. Das zeigt auch noch Variationen, nur sind da die Messungen, die wir im Feld machen können, noch nicht gut genug, um zu sagen, wie alt das Eis ist. Wir haben vermutlich noch deutlich älteres Eis. Was wir nicht wissen ist, ob es da zum Beispiel Faltungen gibt. Dazu müssen wir einfach höher auflösen und noch andere Messungen machen.

Es dürften also mehr als 1,2 Millionen Jahre sein?

Wahrscheinlich schon, wir haben mindestens noch weitere ungefähr 100 Meter an Eis, in dem wahrscheinlich ein Klimasignal drinsteckt, aber wir wissen nicht genau, wie alt das Material ist. Und da drunter gibt es da noch ein Eis, das vielleicht nicht klimatisch, aber glaziologisch extrem interessant ist. Wir nennen das Stagnant Ice. Das ist Eis, das vertikal offenbar nicht mehr ausgedünnt wird. Das findet man an vielen Stellen in der Antarktis und man hat eigentlich noch nicht verstanden, woran das liegt, wo es herkommt oder wie es entsteht.

Arbeit des internationalen Bohrteams im Camp Little Dome C in der Antarktis. Die Sonne täuscht: Bei durchschnittlichen Temperaturen von minus 35 Grad Celsius auf über 3’200 Metern über Meer sind die Arbeitsbedingungen extrem.
Arbeit des internationalen Bohrteams im Camp Little Dome C in der Antarktis. Die Sonne täuscht: Bei durchschnittlichen Temperaturen von minus 35 Grad Celsius auf über 3’200 Metern über Meer sind die Arbeitsbedingungen extrem.
Bild: Beyond EPICA 

Reicht das Material auch aus, um genauer Untersuchungen zu machen?

Was wir noch messen können, ist beispielsweise die Edelgas-Zusammensetzung. Das ist eine ganz spannende Sache, weil wir durch die Bestimmung des Gehalts von Argon, Krypton, Xenon und auch Stickstoff, das eigentlich kein Edelgas ist, die mittlere Temperatur des Ozeans rekonstruieren können. Wir gehen aufs Eis und können damit den Ozean quantitativ mit einem physikalischen Thermometer messen. Der einzige Haken an der Sache ist, dass wir mit 900 Gramm dafür relativ viel Eis brauchen. Der Plan ist, im nächsten Jahr nur das tiefe Eis am Little Dome C nochmals zu durchbohren, um mit diesem Extraeis diese Messungen dann auch durchführen zu können.

Welche anderen Gase spielen eine Rolle?

Was wir noch messen können, ist die Edelgaszusammensetzung. Das ist eine ganz spannende Sache, weil durch wir durch die Bestimmung des Gehalts von Argon, Krypton, Xenon und Stichstoff, das eigentlich kein Edelgas ist, die mittlere Temperatur des Ozeans rekonstruieren können. Wir gehen aufs Eis und können damit den Ozean quantitativ mit einem physikalischen Thermometer messen. Der einzige Haken an der Sache ist, dass wir mit 900 Gramm dafür relativ viel Eis brauchen. Der Plan ist, im nächsten Jahr noch mal ein Eiskern zu bohren, um diese Messungen durchzuführen.

Sie könnten eine Temperaturkurve des Ozeans über die Zeiten erstellen.

Genau, gemittelt über den gesamten Ozean. Diese Temperatur ist einer der wichtigsten Parameter abgesehen vom CO₂, weil im Ozean fast der ganze Energieinhalt der Erde steckt, der sich zwischen Eis- und Warmzeiten verändert. Wir reden immer von 1,5 Grad in der Atmosphäre. Es sind jetzt im Ozean nur Bruchteile davon in Grad Celsius, aber von der Energie her steckt viel mehr im Ozean. Mehr als 90 Prozent der Erwärmungsenergie stecken im Meer. Deswegen ist es so wichtig, zu wissen, wie warm der Ozean war.

Sagen diese Gase auch was über früheren Vulkanismus und Tektonik aus?

An den Edelgasen merkt man das nicht. Aber es gibt natürlich andere Wege. Wir können das Sulfat messen, das von Vulkanen emittiert wird. Wir sehen also grosse Eruptionen direkt in unserem Eiskern. Und da kann man sogar noch Isotope messen und weiss dann, ob sie über die Stratosphäre oder direkt über die Troposphäre kamen. Das machen wir zum Beispiel zusammen mit Kollegen in Grossbritannien, die auf diese Messungen spezialisiert sind.

Wie wird diese Forschung am Ende finanziert?

Den Grossteil des Geldes – elf Millionen Euro – bekommt Beyond EPICA von der EU im Rahmen des Forschungsprogramms HORIZON2020, aber auch der Schweizerische Nationalfonds hat drei Millionen Franken zu den grossen logistischen Kosten beigetragen. Die Eiskernforschung ist ein gutes Beispiel dafür, dass viel wissenschaftlichen Fragen nur durch europäische Kollaboration gelöst werden können.


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