Frau Dr. med. Heim-VögtlinSie war die Erste, und das war damals das Letzte
Von Philipp Dahm
7.11.2021
Es sind starke Frauen, die gegen heftige Widerstände in die Medizin gehen. Die Pionierinnen kämpfen, leiden und scheitern – doch die erste Schweizer Ärztin operiert goldrichtig: Vor 105 Jahren starb Marie Heim-Vögtlin.
Von Philipp Dahm
07.11.2021, 16:16
08.11.2021, 14:22
Philipp Dahm
Frauen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ärztinnen werden wollen, sehen sich mit einer Vielzahl an Widerständen konfrontiert. Zürich spielt bei dieser Mission eine bedeutende Rolle – national wie international.
Auf der einen Seite lockt die ETH Studentinnen aus ganz Europa an. Auf der anderen Seite sind da eine Thurgauerin, eine Solothurnerin und eine Aargauerin, die den Weg ebnen. Die eine scheitert an der Herkules-Aufgabe, die anderen meistern sie. Eine von ihnen ist Marie Heim-Vögtlin: Die erste Ärztin des Landes ist heute vor 105 Jahren gestorben.
Vögtlin kommt 1845 als Tochter des Ortspfarrers von Bözen AG zur Welt: Durch ihre Familienverhältnisse hat sie Zugang zu Bildung. Nach dem Tod ihrer Mutter hilft sie ihrem Vater im Haushalt und bereitet sich autodidaktisch auf die Matura vor. Sie verlobt sich mit ihrem drei Jahre älteren Cousin Friedrich Erismann aus Gontenschwil AG.
Als der 1861 das Studium aufnimmt, gibt es noch keine Frauen an der Medizinischen Fakultät, doch das soll sich ändern: Eine Russin ist es, die 1864 an der ETH Zürich wegen eines Platzes anfragt, und damit einen Stein ins Rollen bringt, der erste Risse im patriarchalen Parkett Europas verursachen soll.
Skandal: Eine Aargauerin will Medizin studieren
Denn die Universität prüft das Ganze, findet keine expliziten Regeln, die dagegensprächen – und genehmigt das Ganze. Der Hintergrund: Nach der gescheiterten Revolution von 1848 lehren viele liberale Professoren aus Deutschland in Zürich, was die Stadt zu einem Vorreiter auf dem Kontinent machte.
Nadeschda Suslowa
Bild: Gemeinfrei
Nadeschda Suslowa aus Novgrorod ist nicht nur die erste Medizin-Studentin der Schweiz, sondern 1867 auch die erste Dame, die hier promoviert. Und zu allem Überfluss verfällt ihr auch noch Friedrich Erismann: Er löst nach zwei Jahren seine Verlobung mit Marie Vögtlin und heiratet die Russin 1868.
Vögtlin soll todtraurig ob des Endes sein. Ist Suslowa sogar der Grund, dass die 23-Jährige ihrem Vater 1868 eröffnet, dass auch sie nun Medizin studieren will? Die Frage löst Empörung aus: erst in der Verwandtschaft, dann im heimischen Bözen und schliesslich im ganzen Land. Dass schamlose Ausländerinnen studieren, ist eine Sache, mit Schweizerinnen ist es eine andere.
Pfeifkonzert gegen die Schweizerin im Leipziger Hörsaal
Als Gründe, dass sich Frauen nicht fürs Medizinstudium eignen, werden alle möglichen Gründe vorgeschoben: Mal sind sie physisch und mal psychisch inkompetent, um dann nicht intelligent genug zu sein. Mal verstösst es gegen die Sittlichkeit, wenn männliche Anatomie zur Sprache käme, und mal gegen die göttliche Ordnung.
Marie Heim-Vögtlin
Bild: Sozialarchiv
Zusammen mit der zwei Jahre älteren Amerikanerin Susan Dimock nimmt Vögtlin 1968 das Studium auf, muss aber erst die Matura nachholen und besteht diese Prüfung als erste Aargauerin 1870. Sie legt dann innert drei Jahren das Staatsexamen ab. An der Uni lernt sie den späteren Geografie-Professor Albert Heim kennen: Sie werden ein Paar.
Ihre Assistenzzeit verbringt die Pastoren-Tochter in Dresden und Leipzig, wo sie medizinische Vorlesungen besucht. Als Frau hat sie es dabei nicht leicht. «Das Pfeifkonzert der Studenten können ihr die Professoren nur ersparen, indem sie sie in einem Vorzimmer warten lassen und mit ihr gemeinsam den Hörsaal betreten», werden die Umstände beschrieben.
Für alle nur noch «Munti»
Vögtlin bildet sich zur ersten Fachärztin für Geburtshilfe und Frauen-Krankheiten Europas aus, macht 1874 als erste Schweizerin ihren Doktortitel und will noch im selben Jahr eine Praxis eröffnen, doch die Zulassung wird ihr zunächst verweigert. Erst nach Intervention ihres Vaters darf sie eröffnen.
1875 heiratet Marie Vögtlin Albert Heim, der damit nach damaligem Recht nicht nur ihr Vormund ist, sondern auch über ihre Einnahmen verfügen darf. Heim ist jedoch für seine Zeit recht aufgeschlossen: Er legt seiner Frau keinerlei Steine in den Weg.
Die wiederum erarbeitet sich in kürzester Zeit einen hervorragenden Ruf und ihre Praxis wird weit über Zürich hinaus Anlaufpunkt für Schweizer Patientinnen. Einerseits zeichnet sich die erste Schweizer Ärztin durch ihre soziale Wärme aus: Bald wird sie wegen ihrer mütterlichen Hilfsbereitschaft nur noch «Munti» genannt.
Keine Männer-Patienten, aber einen Mann als Zeugen
Andererseits versteht es Heim-Vögtlin «wie auch andere Vorkämpferinnen ihrer Generation – meisterhaft, progressives Handeln in ein konservatives Umfeld einzubetten», schreibt Judith Naef in der «Schweizerischen Ärztezeitung»: Sie behandelt keine Männer, sie arbeitet stets mit einem männlichen Assistenten, der ihre Angaben zur Not bezeugen könnte und ist zwar für das Frauen-Wahlrecht, engagiert sich aber auch andersweitig für das Gemeinwohl.
Das Schicksal einer Gleichgesinnten dürfte ihr dabei eine Warnung sein. Caroline Ferner ist drei Jahre älter, kommt aus Guntershausen am Berg TG und ist die zweite Ärztin der Schweiz, nachdem sie drei Jahre nach Heim-Vögtlin in Zürich promoviert und später dort ebenfalls eine Praxis eröffnet.
Doch diese Pionierin läuft gegen Wände. Einerseits, weil sie etwa als Präsidenten des Schweizer Frauen-Verbandes aneckt – und andererseits, weil sie in der Rämistrasse 26 mit Anna Pfrunder mit einer Frau zusammenlebt. Sie gründet in Zürich eine Frauenklinik, wird jedoch geächtet und geschmäht.
Eine Ärztin wird gebrochen
Die «Rufmordkampagne» gipfelt 1892 in einer Verhaftung: Caroline Ferner und Anna Pfrunder wandern satte vier Wochen in Untersuchungshaft, weil ihnen die Unterschlagung von Betreuungsgeldern vorgeworfen wird. Auch die 78 Jahre alte Mutter von Anna Pfrunder, Anna Pfrunder-Schelling, muss für drei Wochen ins Gefängnis.
Ferner schreibt in ihr Tagebuch:
Caroline Ferner
Bild: Gosteli Stiftung
«Sie ist, Gott sei Dank, vorüber, die Schande, in heller Mittagsstunde polizeilich durch die Stadt geführt zu werden! Aber ach, der unendliche Schimpf, den mir die Neue Zürcher-Zeitung mit ihrem gehässigen Bericht angetan hat und der nun in die weite Welt hinauswandert! Auch das muss ich, Grosser Gott, noch durchmachen. Seit vielen Jahren lege ich mich nie zu Bett, ohne mich zu fragen: Hast du heute keinen Fehler begangen, auch nicht einen Irrtum, oder eine Nachlässigkeit?»
Die drei Frauen werden 1893 freigesprochen, doch Ferner zieht sich anschliessend aus der Öffentlichkeit zurück. Marie Heim Vögtlin hingegen weiss in diesem patriarchalen Umfeld zu taktieren – etwa wenn es um den Bau einer Pflegerinnenschule geht, die an die Frauenklinik angeschlossen die Gesundheitsversorgung auf eine neue Studie heben soll: Ihr Mann und der Vater der späteren Oberin sitzen in der Baukommission.
Parade-Paar unter Druck
Nachdem sie nach ihrer Ehe 1875 erst auf die Arbeit gesetzt hat, wird Marie nach sieben Ehejahren mit 36 erstmals Mutter. Sie gebärt noch zwei weitere Kinder, von denen das letzte jedoch nicht überlebt. Ihr Mann ist froh, ihr ein Einkommen erlaubt zu haben, als er selbst Schulden seines Vaters erbt.
Albert Heim
Bild: ETH Bildarchiv
«Ich möchte wahrhaftig selber einmal für einige Tage krank sein, damit meine Frau mich doch pflegen, und ich sie sehen und um mich haben könnte!»
Albert Heim
Ehemann von Marie Heim-Vögtlin.
Das Paar steht stets im Fokus, ist im Buch «Marie Heim-Vögtlin – die erste Schweizer Ärztin» nachzulesen:
«Für viele Zeitgenossen waren Marie und Albert Heim Vorbild und als Ideal des modernen Paares eigentliche Hoffnungsträger. Deshalb lebten sie in einer Art Schaufenster und standen unter enormem Erfolgsdruck. Ihre Beziehung musste gelingen, ein Scheitern hätte in Maries Augen das ganze Frauenstudium diskreditiert, und Ewiggestrige hätten ihre Schadenfreude offen gezeigt.»
Während die Vorkämpferin Ferner von der Gesellschaft gebrochen wird, kann sich Heim-Vögtlin allgemeinen Respekt erarbeiten. Das kommt einerseits den Spenden für den Bau der Pflergeinnenschule zugute, andererseits kommt er zum Ausdruck in der Tatsache, dass am 11. Juli 1899 am 25. Jahrestag ihrer Doktorprüfung die Grundsteinlegung erfolgt.
Meilenstein: Die Schweizerische Pflegerinnenschule
Die Eröffnung der Schweizerischen Pflegerinnenschule mit Frauenspital in der Carmenstrasse 40 am Zürichberg am 30. März 1901 ist ein Quantensprung im Gesundheitswesen und eine Pionierleistung. Die klinische Leitung der «Pflegi» überlässt sie einer Ärztin der zweiten Generation: Anna Heer aus Olten SO hat 15 Jahre nach ihr in Zürich mit dem Studium begonnen und 1892 promoviert.
Die erste Chirurgin der Schweiz verbringt 1889 einige Monate in England und wird dort von den Lehren von Florence Nightingale beeinflusst, die sie als Chefärztin in Zürich einbringt. Komplettiert wird die Gründerinnen-Gruppe von Oberin Ida Schneider, die für die Ausbildung zuständig ist. Sie hat zuvor unter anderem im Hamburger Krankenhaus Eppendorf gearbeitet, das damals als eine der modernsten Kliniken gilt.
Ida Schneider aus Riesbach ZH, Caroline Ferner aus Guntershausen bei Berg TG, Anna Heer aus Olten SO und Marie Heim-Vögtlin aus Bözen AG, die den Bau der «Pflegi» möglich gemacht haben, sterben allesamt in Zürich. Ferner 1913, Heer 1918 und Schneider 1968.
Marie Heim-Vögtlin steckt sich mit Lungen-Tuberkolose an – und erliegt ihrer Krankheit heute vor 105 Jahren am 7. November 1916.
«Wir deutschen Frauen haben der Schweiz vieles zu danken. Ich möchte dieses Frauenleben dazu rechnen.»
Helene Lange
Deutsche Autorin des Buches «Dr. Marie Heim-Vögtlin – die erste Schweizer Ärztin» von 1924.