Krim-Annexion 1783 «Russland braucht das Paradies»

Von Philipp Dahm

8.4.2023

Siegreiche Katharina die Grosse beim Krieg gegen die Türken, Gemälde von Stefano Torelli von 1772.
Siegreiche Katharina die Grosse beim Krieg gegen die Türken, Gemälde von Stefano Torelli von 1772.
Gemeinfrei

Wenn man Präsident Wladimir Putin glauben will, war die Krim irgendwie schon immer russisch. Tatsächlich konnte sich Katharina die Grosse die Halbinsel erst heute vor 240 Jahren einverleiben.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Am 8. April 1783 hat Katharina die Grosse erstmals offiziell die Herrschaft über die Krim übernommen.
  • Zuvor hatte das Osmanische Reich in den Türkenkriegen weite Teile der heutigen Ukraine an Russland verloren.
  • Traditionell wird die Halbinsel seit Jahrhunderten von den Krimtartaren bewohnt, die sich vor 240 Jahren Moskau unterwarfen.

«Kollegen, in den Herzen und Köpfen der Leute war die Krim immer ein untrennbarer Teil Russlands», sagt Wladimir Putin in der Moskauer Duma am 18. März 2014 – zwei Tage nach der Annexion der Halbinsel. «Diese feste Überzeugung basiert auf Wahrheit und Gerechtigkeit und ist von Generation zu Generation weitergegeben worden.»

In den Geschichtsbüchern und Atlanten der Neuzeit sieht das allerdings ganz anders aus: Erst seit dem 8. April 1783, also heute vor 240 Jahren, ist die Krim russisch. Es gelingt Katharina der Grossen, die dort lebenden Tartaren dazu zu bringen, Moskaus Herrschaft anzuerkennen. Ausgerechnet einer Deutschen: Geboren wird die Kaiserin als Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst in Stettin.

Katharina II. im Ornat der regierenden Kaiserin: Das Ölbild von Vigilius Eriksen ist 1778 oder 1779 entstanden.
Katharina II. im Ornat der regierenden Kaiserin: Das Ölbild von Vigilius Eriksen ist 1778 oder 1779 entstanden.
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Wie steht es vorher um die Macht in der Region?

Historisch ist sie geprägt vom Zerfall der Goldenen Horde, die unter dem Herrscher Dschingis Khan Angst und Schrecken in Europa und Asien verbreitet hat. Als das Riesenreich zusammenbricht, gründen seine Nachfahren, die Dschingisiden, 1441 auf der Krim ein Khanat. So heissen frühe turko-mongolische Feudalstaaten.

Tatsächlich hat bis ins 18. Jahrhundert das Osmanische Reich auf der Halbinsel den grössten Einfluss: Die Krimtartaren werden dort deshalb auch Krimtürken genannt. Sie erkennen die Oberhoheit des jeweiligen Sultans in Istanbul an, bleiben dafür aber weitgehend selbstständig. Sie betreiben eine eigenständige Aussenpolitik und prägen eigene Münzen.

Der lange Weg zum Schwarzen Meer

Russland versucht schon früh, Zugriff auf das Gebiet zu bekommen – und damit auch einen Zugang zum Schwarzen Meer. 1559 scheitert der erste Angriff. 1696 erobern die Russen kurzzeitig Asow am Asowschen Meer, müssen die Stadt 1711 aber wieder an die Osmanen abtreten. Doch der Kreml lässt nicht locker: Der Meereszugang ist essenziell für die Zaren.

Karte von 1716: «Assoph, Azow oder Azak, mit der Kleinen Tartarey, dem Schwarzen Meer und denen Russisch oder Moscowitisch, auch Polnischen Graentzen».
Karte von 1716: «Assoph, Azow oder Azak, mit der Kleinen Tartarey, dem Schwarzen Meer und denen Russisch oder Moscowitisch, auch Polnischen Graentzen».
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Platz machen muss die Hohe Pforte, wie die Regierung des Osmanischen Reiches genannt wird. In den Türkenkriegen dehnt Russland seinen Herrschaftsbereich aus, wobei sie auch gegen die Krimtartaren kämpfen: 1681 muss der Sultan die Hoheit über die Ukraine abgeben. Die neue Grenze ist der Dnepr.

Kosaken kämpfen gegen Tartaren des Khanats Krim, Gemälde von Józef Brandt von 1890.
Kosaken kämpfen gegen Tartaren des Khanats Krim, Gemälde von Józef Brandt von 1890.
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1736 beginnt der mittlerweile 4. Russische Türkenkrieg, in dem Moskau zusammen mit Österreich mit dem Osmanischen Reich streitet. Die russische Armee verwüstet dabei die Krim. Kaiserin Anna Iwanowna erhält nach dem Friedensschluss drei Jahre später aber nur die Festung Asow und die Stadt Saporischschja als Lohn.

Wenn zwei sich streiten, freut sich die Dritte

Erst im 6. Russischen Türkenkrieg schafft es der Kreml endlich, den Einfluss der Sultane über das Khanat Krim zu brechen, das im Frieden von 1774 formal unabhängig wird. Doch eigentlich ist Kaiserin Katharina II. nun an ihre Genzen gestossen.

Vernichtung der osmanischen Mittelmeerflotte bei Çeşme im Jahr 1770 auf einem Gemälde von Ivan Ayvazovsky aus dem Jahr 1848.
Vernichtung der osmanischen Mittelmeerflotte bei Çeşme im Jahr 1770 auf einem Gemälde von Ivan Ayvazovsky aus dem Jahr 1848.
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1772 verhindert sie zusammen mit Preussen, dass Österreich an der Seite der Hohen Pforte in den Krieg eintritt, indem Berlin, Wien und Moskau Polen erstmals unter sich aufteilen – Preussen hätte durch Verträge an der Seite Russlands nämlich darin eintreten müssen.

Die Könige von England, Preussen und Frankreich wollen fortan aber verhindern, dass Moskau durchs Schwarze Meer einen Zugang zum Mittelmeer bekommt – und unterstützen deshalb das Osmanische Reich. Doch zu Beginn der 1780er-Jahre liegen London und Paris über Kreuz, weil die britischen Kolonien in Nordamerika revoltieren.

Potemkins Neurussland

Das ist die Gelegenheit für Katharina, Nägel mit Köpfen zu machen. Die treibende Kraft hinter den Annexionsgelüsten ist ein schillerndes Genie mit Namen Grigori Alexandrowitsch Potjomkin – besser bekannt als Potemkin. Als sich Katharina die Grosse 1762 gegen ihren Gatten Peter III. an die Macht putscht, gehört er zur Gardetruppe, die ihr treu ergeben ist. Er hat auch über rund zwei Jahre ein Verhältnis mit ihr.

Potemkin-Porträt von Johann Baptist Lampi dem Älteren.
Potemkin-Porträt von Johann Baptist Lampi dem Älteren.
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Potjomkin steigt in den militärischen Rängen auf, wird zum Grafen ernannt, vom preussischen König geehrt und vom österreichischen Kaiser zum Fürsten gemacht. Es ist Potemkin, der den Türken im letzten Krieg grosse ukrainische Gebiete abringt, und es ist Potemkin, der in dem kaum besiedelte Gebiet Neurussland Siedlungen wie Odessa, Sewastopol oder Mariupol gründet und die Schwarzmeerflotte aufbaut.

«Karte von Neurussland, den Nachbarstaaten und den Küsten am Schwarzen Meere» von 1855.
«Karte von Neurussland, den Nachbarstaaten und den Küsten am Schwarzen Meere» von 1855.
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«Stell dir vor, die Krim gehört dir», schreibt er im November 1782 an Katharina. «Glaub mir, durch diese Tat wirst Du grösseren Ruhm erringen als jeder andere russische Monarch zu irgendeiner Zeit. Dieser Ruhm wird zu einem noch grösseren führen, denn durch die Krim wird die Herrschaft über das Schwarze Meer erlangt werden.» Und: «Russland braucht das Paradies.»

Unterwerfung mit Wodka begossen

Potemkin reformiert zwar das russische Militär, unterwirft die Krim aber ohne Blutvergiessen: Er überzeugt den grausamen Khan, gegen eine grosszügige Pension abzudanken, versichert den Clan-Chefs ihre Privilegien und erreicht so, dass sie Moskau die Treue schwören. «Anschliessend», hält die deutsche «Welt» fest, «feierten die neuen muslimischen Untertanen und ihre neuen orthodoxen Herren mit Wodka ein grosses Fest, denn der Koran verbot ja nur Wein.»

Mit dem Manifest Über die Annahme der Halbinsel Krim, der Insel Taman und der gesamten Kuban-Seite unter den russischen Staat verleibt sich Russland am 8. April 1783 das Gebiet offiziell, aber nicht endgültig ein. «Die heutige neue Grenze verheisst Russland Frieden, Europa Eifersucht und der Hohen Pforte Furcht», freut sich Potemkin.

240 Jahre später ist Frieden nicht in Sicht. Die Krim geht mit der Ukraine in der Sowjetunion auf, wo sie 1954 offiziell an Kiew übergeben wird. Im Frühling 2014 lässt Wladimir Putin die Halbinsel besetzen. Zwei Tage nach der Annexion sagt der Kreml-Chef in Moskau an die Duma gerichtet: «Wir haben die territoriale Integrität der Ukraine immer respektiert.»

Putins Rede zur Duma am 18. März 2014.
Putins Rede zur Duma am 18. März 2014.
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Richtung Kiew schiebt er nach: «Hört mich an, liebe Freunde. Glaubt nicht jenen, die wollen, dass ihr Russland fürchtet. Die rufen, dass nach der Krim andere Regionen folgen werden. Wir wollen die Ukraine nicht aufteilen, wir brauchen das nicht. Die Krim wird russisches, ukrainisches und Tartaren-Land bleiben.»

Putins Rede ist nicht gut gealtert.