«Wie aus dem Nichts»Omikron ist auch für die Entdecker ein grosses Rätsel
Von Uz Rieger
6.12.2021
Im südlichen Afrika explodieren die Omikron-Fälle, auch andernorts werden es immer mehr. Forscher*innen rätseln über die Gefährlichkeit der Mutation – und darüber, wie sie entstehen konnte.
Von Uz Rieger
06.12.2021, 13:28
Uz Rieger
Experten sind sich weitgehend einig, dass die Omikron-Variante gar nicht ganz so neu sein dürfte, wie zunächst vermutet. «Nach derzeitigem Kenntnisstand hat sich eine frühe Form von Omikron schon vor der Entstehung von Alpha und Delta als eigener Virustyp entwickelt», sagte Wolfgang Preiser von der Stellenbosch University in der Nähe von Kapstadt der Deutschen Presse-Agentur. Er ist Mitglied des Forschungskonsortiums, das die Variante entdeckt hat.
Vorläufer bereits Mitte 2020 registriert
Während erste Nachweise von Alpha und Delta aus dem vierten Quartal 2020 stammen, finde sich die nächste Verbindung von Omikron bereits zu Virusvarianten, die Mitte des Jahres 2020 nachgewiesen wurden. Das berichtet der «Spiegel» unter Verweis auf Daten der Nextstrain-Datenbank, in der Experten die Ergebnisse von Virus-Sequenzierungen eintragen.
Preiser nimmt an, dass der Virustyp sich wahrscheinlich über viele Monate weiterentwickelt hat, ohne zunächst aufzufallen. Für ihn stellen sich die Fragen: «Wieso blieb Omikron so lange verborgen und legt erst jetzt los? Fehlten noch ein, zwei Mutationen, um sich schnell verbreiten zu können?» Auch der Epidemiologe Richard Neher von der Universität Basel wundert sich in der «NZZ am Sonntag», die Mutante sei geradezu «wie aus dem Nichts aufgetaucht».
Warum die Variante so lange unentdeckt bleiben konnte, dafür sehen Forschende drei Möglichkeiten.
In einem Tier oder einem chronisch kranken Patienten entwickelt?
Eine der Möglichkeiten besteht darin, dass Omikron auf Tiere übergesprungen ist, sich hier weiterentwickelt hat, um dann wieder auf den Menschen überzugehen, vermutet Virologe Preiser.
Ein entsprechendes Hin und Her beim Coronavirus sei zwischen Menschen und Nerzen bereits mehrfach in Dänemark nachgewiesen worden, bestätigt der Virologe Friedemann Weber von der Justus-Liebig-Universität Giessen der «NZZ am Sonntag». Auffällig sei bei Omikron zudem, dass die Variante alle sieben Mutationen aufweise, von denen bekannt sei, dass sie die Ansteckung von Nagetieren erleichtern, wie die Zeitung schreibt.
Auch könnte sich das Virus in einer nur schlecht überwachten Region zunächst längere Zeit fortentwickelt haben, bis es schliesslich erstmals in Südafrika bei einer Person nachgewiesen wurde. Dass die Variante in Südafrika entstanden sei, glaube sie nicht unbedingt, sagte die Frankfurter Virologin Sandra Ciesek dem «Spiegel».
«Wahrscheinlicher ist, dass sie aus einer Region stammt, in der man weniger sequenziert, und einfach nicht gesehen wurde», vermutet Ciesek. Dafür würden auch die vielen Mutationen der Variante sprechen. «So etwas bildet sich nicht innerhalb von ein paar Tagen, sondern entsteht nach und nach».
Zuletzt halten Experten es auch für denkbar, dass sich Omikron in einem chronisch infizierten Covid-19-Patienten entwickelt haben könnte. Laut Preiser ist das etwa in einem Patienten mit HIV oder einer anderen Form von Immunschwäche möglich.
Demnach kann sich das Virus bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem über viele Monate vermehren und Stück für Stück verändern, ohne dass es gänzlich vom Immunsystem ausgeschaltet wird. «Das ist eine spekulative These und nicht belegt», stellt der Virologe dazu aber klar.
Besonders viele Kinder unter fünf Jahren betroffen
Momentan ist nicht nur die Frage zur Entstehung der Omikron-Variante zweifelhaft. Offen ist weiterhin, wie Impfungen gegen Omikron wirken. «Zwar gibt es derzeit in Südafrika sehr viele Durchbruchsinfektionen bei Geimpften mit Omikron. Aber es ist unklar, ob das an speziellen Eigenschaften der Variante liegt.»
Denkbar sei auch, dass äussere Umstände eine Rolle spielen. So infizieren sich derzeit häufig Mitarbeiter des Gesundheitswesens, die unter anderem wegen einer frühen Impfung stärker von einem nachlassenden Schutz betroffen sind, teilt Preiser mit.
Wie Ramphelane Morewane vom südafrikanischen Gesundheitsministerium Ende vergangener Woche bestätigte, ist zeitgleich mit dem vermehrten Auftauchen von Omikron auch ein verstärkter Anstieg von Spitaleinlieferungen bei unter Fünfjährigen zu beobachten.
Die Inzidenz bei den Kleinkindern in Südafrika sei nun die zweithöchste nach der Altersgruppe der über 60-Jährigen. Forschende und Vertreter der Gesundheitsbehörden teilten aber ebenfalls mit, es sei noch unklar, ob ein Zusammenhang zwischen den Infektionszahlen in den Altersgruppen und der Variante bestehe.
Omikron könnte nach Einschätzung der EU-Gesundheitsbehörde ECDC schon in wenigen Monaten die dominierende Variante in Europa sein. Die Behörde wies kürzlich darauf hin, dass es zwar nach wie vor eine Reihe von Unsicherheiten hinsichtlich der Übertragbarkeit, des Schweregrads von Erkrankungen und mögliche Auswirkungen auf die Immunabwehr gibt. Vorläufige Daten deuteten jedoch darauf hin, dass Omikron gegenüber der Delta-Variante klar im Vorteil sei. Die WHO stuft Omikron als «besorgniserregend» ein.