Das uralte Gewerbe ist Teil einer Kultur, die allmählich zu verschwinden droht. Umso mehr bemüht sich Zoltan Sztojka, seine mystischen Künste mit anderen Roma in Ungarn zu teilen. Was bisher fehlt, ist Anerkennung.
Von Justin Spike
17.10.2021, 13:03
17.10.2021, 13:05
Justin Spike
Die Tarotkarten auf dem Tisch sehen schon recht mitgenommen aus. Zoltan Sztojka blickt unter der Krempe seines grossen Hutes hervor.
Während seine mit schweren Ringen verzierten Hände die Karten wenden, offenbart der 47-Jährige seinen Kunden, die er als «Patienten» bezeichnet, was sie in der Zukunft zu erwarten haben. Die Fähigkeit der Weissagung werde in seiner Familie seit dem Jahr 1601 gepflegt, sagt Sztojka.
Er selbst sieht sich als den letzten Roma-Wahrsager Ungarns. Freunde und die meisten Bewohner seines Heimatdorfes Soltvadkert nennen ihn einfach «Zoli mit dem Hut». Bereits seit 25 Jahren legt Sztojka seinen «Patienten» die Karten oder liest ihnen aus der Hand.
Talent in der Kindheit entdeckt
Sein Talent, das Unsichtbare zu sehen, sei schon in der Kindheit deutlich gewesen, sagt er. «Man wird entweder damit geboren, oder man erbt es. Aber zu sagen, man könne es erlernen, ist Humbug.» Seine Vorfahren seien in ununterbrochener Linie über viele Generationen hinweg «Wahrsager und Seher» gewesen, sagt Sztojka, mit einer Zigarette im Mund, in einem Raum voller brennender Kerzen und religiöser Bilder.
Wie sie sei er «von Gott auserwählt», die Gabe der Wahrsagerei zu praktizieren. Seine 150 Jahre alten Tarotkarten habe er von seiner Ururgrossmutter geerbt. Was er macht, hat für ihn und viele andere aber auch eine kulturelle Bedeutung.
Sztojka ist Teil der in Ungarn besonders grossen Minderheit der Roma. Schätzungen zufolge leben bis zu einer Million Roma in dem Land. Das entspricht etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Ähnlich wie in den meisten anderen europäischen Ländern leiden viele Angehörige der Minderheit auch in Ungarn unter Diskriminierung, sozialer Ausgrenzung und Armut.
Verlorene Traditionen
In das Gebiet des heutigen Ungarns kamen die ersten Roma im 15. Jahrhundert. Viele von ihnen waren Handwerker oder Musiker. Lange sprachen sie ihre eigene Sprache und bewahrten diverse Dialekte und Bräuche. Mitte des 18. Jahrhunderts ordneten die Habsburger Herrscher dann aber eine Zwangsassimilation an.
Der nomadische Lebensstil der Minderheit wurde ebenso verboten wie ihre Sprache. Zum Teil wurden sogar Kinder ihren Eltern entrissen, um in fremden Familien ohne Roma-Einfluss aufzuwachsen. Auch das ungarische Wort für Roma, «Cigany», wurde verboten. Angehörige der Minderheit wurden fortan als «neue Ungarn» bezeichnet.
Diese und andere Entwicklungen hätten dazu geführt, dass die meisten Roma in Ungarn heute nicht mehr die ursprünglich Sprache Romani beherrschten und auch viele einstige Traditionen verloren gegangen sind, sagt Szilvia Szenasi, Leiterin der ungarischen Organisation Uccu Roma Informal Educational Foundation. Es sei wichtig, traditionelle Berufe, wie eben auch die Wahrsagerei, «für die nächste Generation zu erhalten». Denn diese seien für die Identität der Roma entscheidend.
Frommer Katholik
Auch für Sztojka geht es daher um mehr, als nur eine jahrhundertealte mystische Kunst am Leben zu halten. Jeden Tag bekleidet er sich mit bunten Hemden und Westen mit folkloristischen Motiven und pflegt seinen traditionellen, langen dunklen Schnauzbart.
Seinen Hut, ein Kennzeichen der aus dem rumänischen Siebenbürgern stammenden Roma-Gruppe Gabor, nimmt er – als laut eigenen Angaben frommer Katholik – nur ab, wenn er isst oder einen Gottesdienst besucht.
«Es ist ungeheuer wichtig, dass wir unsere Kultur und unsere Traditionen erhalten. Wenn wir keine Kultur haben, wird die Gemeinschaft der Zigeuner aufhören zu existieren», sagt Sztojka. «Ich versuche, sie vielen Menschen zu vermitteln, damit sie mehr über uns erfahren.»
Zigeuner bevorzugt
Viele Ungarn wüssten bloss, dass es diese Minderheit gebe, «aber sie wissen nichts über uns», beklagt der 47-Jährige, der selbst das Wort Zigeuner bevorzugt, obwohl es in manchen Ländern als abwertende Bezeichnung für die Volksgruppe gilt.
Sztojka und seine Familie gehören zu der Roma-Untergruppe Lovari. Der von ihnen gesprochene Dialekt befindet sich laut seinen Angaben «am Rande des Aussterbens». «Die Leute wollen die Zigeunersprache nicht wirklich sprechen. Alle passen sich an, als wollten sie auf einmal Ungarn sein», sagt er.
Die eigenen Traditionen seien etwas, was die Roma ausmachen würden, betont auch Beatrix Kolompar, eine Angehörige von Sztojka. «Da wir kein eigenes Land haben, führen wir die Welt, in der wir leben, die Lebensweise der Roma, in unseren Traditionen weiter», sagt sie. «Die tanzenden Mädchen, die bunten Kleider, die Wahrsagerei und die Wahrsager – das steht für das, was wir sind.»
Knapp 45 Franken für eine Sitzung
Aus Sicht von Szenasi, der Leiterin der Organisation Uccu, erfordert die Wahrung solcher Traditionen aber auch eine «kulturelle Anerkennung». Und daran mangle es in Ungarn noch sehr. Ohne «institutionelle Kultur», etwa in Form von Museen und anderen Institutionen, würden die Bräuche der Minderheit in Vergessenheit geraten und ihre Werte verschwinden, sagt sie.
Für Sztojka, der mit der Wahrsagerei seinen Lebensunterhalt bestreitet, war zuletzt auch die Corona-Pandemie ein herber Rückschlag. Obwohl er viele wiederkehrende «Patienten» habe, sei das Geschäft etwa um die Hälfte eingebrochen. Für seine Sitzungen nimmt er nach eigenen Angaben normalerweise 15'000 Forint (44.6 Franken). Im Vordergrund stehe für ihn aber «eine Mission», die sowohl ihn selbst als auch seine Kunden spirituell bereichere.
«Die Karten zu lesen, ist für mich ein wahrer Segen. Auf diese Art kann ich meinen Mitmenschen helfen», sagt Sztojka. Und deswegen werde er es nie aufgeben, das von seinen Ahnen überlieferte mystische Gewerbe fortzuführen. «Meine Eltern haben sich nicht angepasst, meine Grosseltern haben sich nicht angepasst und ich werde es ebenfalls nicht tun. Wenn du keine Vergangenheit hast, dann hast du keine Zukunft.»
Schreckmoment unter Wasser: Hai beisst Taucherin in die Wade
Beim Tauchgang auf den Malediven wird die Reisefotografen Lilian Tagliari von einem Ammenhai gebissen. Die 38-jährige Brasilianerin kommt mit ein paar Narben und dem Schrecken davon.
03.12.2024
Shoppen am Black Friday: «Wenn schon, dann online»
Alle Jahre wieder kommt … der Black Friday und führt zu kontroversen Diskussionen. Umweltschützer kritisieren den Konsumwahnsinn, Schnäppchenjäger fiebern Rabatten entgegen. Und die Schweizer*innen?
26.11.2024
3500 Kilometer von der Heimat gestrandet: Verirrter Pinguin darf wieder nach Hause
Anfang November strandete Kaiserpinguin Gus an der Küste Australiens. Fern seiner antarktischen Heimat und total unterernährt wird er von Tierschützern aufgepäppelt und soll nun seine Rückreise antreten.
27.11.2024
Schreckmoment unter Wasser: Hai beisst Taucherin in die Wade
Shoppen am Black Friday: «Wenn schon, dann online»
3500 Kilometer von der Heimat gestrandet: Verirrter Pinguin darf wieder nach Hause