Helden und Opfer Der 9/11-Terror lässt New York auch nach 20 Jahren nicht los

Von Benno Schwinghammer und Christina Horsten, dpa

9.9.2021 - 04:52

US-Präsident George W. Bush spricht in den Trümmern des New Yorker World Trade Centers neben dem pensionierten New Yorker Feuerwehrmann Bob Beckwith zu den freiwilligen Helfern und Feuerwehrleuten durch ein Megafon.
US-Präsident George W. Bush spricht in den Trümmern des New Yorker World Trade Centers neben dem pensionierten New Yorker Feuerwehrmann Bob Beckwith zu den freiwilligen Helfern und Feuerwehrleuten durch ein Megafon.
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Ein Trümmerfeld in Manhattan, ein stürzender Mann, der Präsident mit Megafon. Einige Bilder des 11. September werden viele nie vergessen. Doch die Orte und Menschen von damals haben sich verändert.

Von Benno Schwinghammer und Christina Horsten, dpa

Bob Beckwith wird langsam vergesslich. Manchmal stutzt der 89-Jährige mitten im Satz. Dann fragt er seine Frau, worüber er gerade geredet hat.

Doch an den Moment vor 20 Jahren, als er Arm in Arm mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten vor der Weltöffentlichkeit stand, wird der ehemalige Feuerwehrmann sich immer erinnern. Es waren die Tage nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und Beckwith grub mit Hunderten Helfern in den Trümmern des World Trade Center nach Leben. Dann besuchte George W. Bush Ground Zero.



«Wir hatten keine Ahnung, dass der Präsident kommt. Und falls wir es wussten, hatten wir es vergessen», erzählt Beckwith, der tagelang unermüdlich nach dem vermissten Sohn eines Freundes suchte. Er stand gerade auf einem zerstörten Feuerwehrwagen, als Bush auftauchte. «Und er kommt geradewegs auf mich zu, und er streckt den Arm aus, und ich ziehe ihn hoch». Die Bilder die folgen – Bush mit Megafon und dem Arm um Beckwith – gehen als Symbol amerikanischen Durchhaltewillens um die Welt. 20 Jahre später ist der Feuerwehrmann noch immer eines der Gesichter der Anschläge des 11. September, Held und Opfer zugleich.

Das Schlimmste in seinem Leben

Die Tage im Jahr 2001 gehörten zu den schlimmsten seines Lebens, sagt Beckwith. Er war schon längst pensioniert, doch als das World Trade Center auch über Hunderten Feuerwehrleuten zusammenstürzte, entschied er sich, seinen Kameraden zu helfen. «Ich kannte einige von diesen Jungs», meint er. «Vor vielen Jahren habe ich mit ihren Vätern zusammengearbeitet.»

In Beckwiths Haus, eineinhalb Stunden östlich von Manhattan, wo Long Island von schmucklosen Arbeitervierteln dominiert wird, hängt heute die US-Flagge, die Bush damals hielt. Seine Frau hat sie zusammen mit dem Cover des «Time Magazine» von der Szene Rahmen lassen.

Zwei Jahrzehnte, nachdem Beckwith mit seiner Schaufel in dem Trümmerfeld grub, erfüllt heute das Geräusch plätschernden Wassers den ehemaligen Ground Zero. Nach dem Willen seines Erbauers soll sich das Rauschen mit dem eigenen Herzschlag vermischen und so der fast 3000 Opfer des schwersten Terrorakts der Geschichte des Landes gedenken. Die quadratischen Brunnen, gesäumt von Bäumen, symbolisieren die früheren Grundrisse des World Trade Center, an ihrem Rand sind die Namen der Opfer graviert.

Unheimliche Leere

«Nichts darf dort jemals wieder gebaut werden», dachte Stararchitekt Daniel Libeskind, als er wenige Wochen nach den Anschlägen im Regen zum felsigen Fundament der Türme hinabstieg. «Es war eine unheimliche, unheimliche Leere. Wenn du unten in der Grube bist und zurück auf die Strassen von New York schaust, sehen die Leute aus wie kleine Ameisen», erzählt er. Die Vision des Architekten, einen Ort der Erinnerung zu schaffen und das neue Hochhaus an den nördlichen Rand des Areals zu verbannen, wurde schliesslich Wirklichkeit.

Wer heute an diesen Ort hinuntergeht, in die riesige Betonwanne des ehemaligen World Trade Centers, befindet sich in dem Museum, das Libeskind entworfen hat. Durch einen Raum hallen die aufgezeichneten Stimmen von Überlebenden. Sie erzählen von ihrer Flucht aus den Türmen. Einige Schritte weiter sprechen Angehörige die Namen ihrer ermordeten Freunde, Partner oder Kinder aus. Und auch ein Feuerwehrhelm mit der Nummer 164 ist ausgestellt – er gehört Bob Beckwith.

Die Bilder aus New York, für so viele die inoffizielle Hauptstadt der Welt, blieben im Gedächtnis. Doch die Trümmerhaufen des amerikanischen Schicksalstages türmten sich damals ebenso im Pentagon in Washington, in das eines der Flugzeuge hineinpflügte und einen Teil des US-Verteidigungsministeriums zum Einsturz brachte. Und auch auf einem Feld im Bundesstaat Pennsylvania, wo die vierte gekaperte Maschine durch das Eingreifen mutiger Passagiere abstürzte – an der Stelle steht heute ebenfalls eine Gedenkstätte.

«Dust Lady» und «Falling Man»

Unvergessen sind auch die Opfer, deren Bilder weltweite Erschütterung auslösten. So zum Beispiel die komplett mit Staub eingedeckte «Dust Lady» Marcy Borders, die nach dem 11. September zehn Jahre lang nicht arbeiten konnte. 2015 schliesslich starb sie mit 42 Jahren an Krebs. Oder «The Falling Man», ein an der Fassade des Wolkenkratzers kopfüber hinunterstürzender Mann, an dessen verstörendem Foto sich auch viele Künstler abarbeiteten.

Es wurde nie zweifelsfrei geklärt, wer der «Falling Man» war. Und auch die Identität von vielen weiteren Toten bleibt ungeklärt – die Deutsche Mechthild Prinz arbeitete genau daran. Die heute 63-Jährige aus dem Rhein-Sieg-Kreis kam in den 90er Jahren für einen Forschungsaufenthalt nach New York und blieb. Als Gerichtsmedizinerin für die Metropole meldete sie sich am 11. September 2001 direkt für die Nachtschicht.

«Dieser Zusammenbruch, der hat ja alles pulverisiert – Schreibtische, Computer. Da waren viele Leichen natürlich auch fragmentiert», erinnert sie sich. Auf der letzten Vermisstenliste der Anschläge in New York stehen 2753 Menschen. In der Gerichtsmedizin und bei Prinz in der forensischen Biologie wurden in den Tagen und Wochen danach 289 intakte Leichen und fast 22.000 Leichenteile angeliefert.

Die Vorgabe: Alles, was aussieht wie menschliches Gewebe und grösser ist als ein halber Daumen, muss getestet werden. Die Ergebnisse werden abgeglichen mit Informationen und Materialien, die die Familien der Vermissten abgegeben haben. Die Arbeit ist damals noch nicht digitalisiert, DNA-Proben gehören nicht zur Routine. «Das war rund um die Uhr, Tag und Nacht», erinnert sich Prinz. «Ich glaube, ich war zwei Tage zu Hause bis Dezember.»

Mühsamer Prozess

Die Arbeit dauert noch immer an. Erst 60 Prozent der Opfer sind inzwischen identifiziert. Mit immer neuen Technologien und Methoden wird an den verbleibenden Überresten gearbeitet, ein mühsamer und langwieriger Prozess. «Manche Proben sind nicht identifiziert, weil keine Familie etwas abgegeben hat, und manche Opfer sind nicht identifiziert, weil nichts von ihnen gefunden wurde», sagt Prinz, die inzwischen an die Fakultät für forensische Wissenschaften des John Jay College in Manhattan gewechselt ist.

Prinz glaubt nicht, dass jemals die Identität aller Opfer festgestellt werden kann. «Und ich glaube, dass manche von den Leichen leider spurlos verschwunden sind durch den Zusammensturz und die Feuer.» Trotzdem sei es wichtig, weiterzumachen – «weil es den Opferfamilien versprochen worden ist».

Was bleibt ist eine Tragödie, deren Aufarbeitung selbst nach 20 Jahren nicht abgeschlossen ist. Und auch Daniel Libeskind merkt an, dass der neue Komplex des World Trade Center nicht ganz fertig ist: Ein Hochhaus befinde sich noch im Bau. Ein Bild, das auch Mut macht: New York als Stadt, die nicht nur wieder aufgestanden ist, sondern weiter wächst.

Doch während New York trotz Corona-Rückschlägen wieder blüht, zahlten viele der Helden vom 11. September, die tagelang vielen Giftstoffen ausgesetzt waren, einen hohen Preis. Bob Beckwith muss in einigen Tagen wieder in die Klinik: «Ich werde zum vierten Mal im Krankenhaus operiert, wegen bösartiger Melanome in meinem Gesicht», erzählt er. Er nennt es den «Krebs des 11. September».