Soziologin zur Spaltung durch Corona«Viele Familien reden nicht mehr darüber, das ist manchmal besser»
Von Maximilian Haase
26.12.2021
Die Corona-Pandemie habe die Spaltung der Gesellschaft verstärkt, lautet eine beliebte Diagnose. Stimmt das? «blue News» sprach mit Prof. Katja Rost, Soziologin an der Universität Zürich.
Von Maximilian Haase
26.12.2021, 11:49
Maximilian Haase
Frau Rost, ganz direkt gefragt: Hat die Corona-Pandemie die Spaltung der Gesellschaft wirklich vertieft?
Sagen wir es so: Es gibt derzeit sehr starke Meinungsverschiedenheiten in der Bevölkerung. Noch häufiger als im realen Leben beobachten wir das aber in den sozialen Medien und in den öffentlichen Medien. Von Angesicht zu Angesicht sind die meisten Menschen zurückhaltender. Das sieht man etwa auch daran, dass die Demos der Corona-Skeptiker nicht weiter zugenommen haben. Zum anderen ist eine Gesellschaft immer von unterschiedlichen Meinungen geprägt. Das muss eine Gesellschaft aushalten.
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Zum Jahresende bringt «blue News» die Lieblingsstücke des ablaufenden Jahres noch einmal. Dieser Text erschien zum ersten Mal am 28. August 2021.
Aktuelles Beispiel ist die Zertifikats-Ausweitung. Manche sehen hier eine Spaltung je nach sozialem Status.
Die Einteilung in Geimpfte und Nicht-Geimpfte ist in der Schweiz ja ein grosses Thema. Aus Sicht der Politik muss diese Differenzierung stattfinden: Wer sich nicht impfen lassen und zum Kollektivgut beitragen will, für den entstehen Kosten – etwa, dass die Betroffenen sich regelmässig testen lassen müssen oder von bestimmten Anlässen sogar ausgeschlossen sind. Hier muss man aber aufpassen, dass keine Stigmatisierung droht und Menschen nicht aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Zumal nicht jeder, der nicht geimpft ist, gleich ein Impfgegner ist. Man muss als demokratische Gesellschaft dazu stehen, dass Menschen sich dagegen entscheiden.
Was ist mit der anfänglichen und vielbeschworenen Solidarität passiert?
Die gab es – und die hat nachgelassen. Das ist völlig normal. Immer wenn die Gesellschaft von Unsicherheit bedroht ist, halten wir zunächst zusammen. Danach geht das wieder auseinander, die Menschen agieren wieder egoistischer. Und zwar immer dann, wenn sie merken, dass Solidarität auf Dauer unangenehme Kosten mit sich bringt. So auch in der Pandemie: Anfangs wussten wir nicht, wie gefährlich das Virus ist, wie wir damit umgehen sollten. Erst danach bildeten sich die unterschiedlichen Meinungen heraus – das, was wir nun als Spaltung erleben. Da differenziert sich eine Gesellschaft wieder.
Zur Person
Bild: John Flury
Katja Rost ist Ordinaria für Soziologie und Privatdozentin für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Wirtschafts- und Organisationssoziologie, der digitalen Soziologie, sozialer Netzwerke und Diversität. Sie ist unter anderem Vizepräsidentin des Universitätsrats der Universität Luzern und Präsidentin der Gleichstellungskommission der Universität Zürich.
Also alles halb so wild?
Medial werden wir gerade mit verschiedenen «Katastrophen» konfrontiert. Die Klimakatastrophe, die Flüchtlingskatastrophe, die Überschwemmungskatastrophe – und eben auch die Corona-Katastrophe. Wir schlittern quasi von einer zur anderen. Das verunsichert natürlich – und wird in den sozialen Medien intensiv diskutiert.
Spielen die sozialen Medien eine Rolle bei der Radikalisierung zuvor unauffälliger Bürger?
In diesen Echokammern werden Meinungen verstärkt. Dort bewegt man sich häufig in einer Filterblase von Gleichgesinnten. Weil sich dort viele öffentlich auf dieselbe Weise äussern, glaubt man, dass viele so ticken wie man selbst. Es herrscht der Eindruck, dass alle einer Meinung seien.
Ist also – zugespitzt – das Internet schuld?
Es ist durchaus eine Hauptursache für den Hass und die Radikalisierung, die wir bisweilen erleben. Die Online-Beziehungen, die wir pflegen, differenzieren nicht zwischen den Gruppen, die wir draussen bilden. Algorithmen ordnen uns schon von vornherein zu. Zudem müssen wir uns dort nicht mit einer konkreten Person auseinandersetzen, müssen sie nicht anschauen und keine Gegenreaktion aushalten. Es fehlen Statussignale und Empathie. In der Offline-Welt hingegen sind wir gezwungen, uns mit sehr viel mehr und viel unterschiedlicheren Ansichten zu beschäftigen, zudem mit verbalen und nonverbalen Signalen.
Aber entstehen nicht durch die Interaktion im Netz auch neue Zusammenhänge in der Offline-Welt – Stichwort Verschwörungstheorien und Querdenker?
Medien prägen uns natürlich sehr stark. Die sozialen Medien genauso wie die klassischen Medien – die von vielen ja nicht mehr konsumiert werden. Das hat selbstverständlich Auswirkungen auf unsere Meinungen, und auch darauf, mit wem wir befreundet sind und welchen Gruppierungen wir uns anschliessen. Das ist ein wechselseitiges Verhältnis und nicht zu trennen. Trotzdem: Viele der Radikalen im Netz sind offline graue Mäuse, die sich das sonst nicht trauen.
Wie ist es zu erklären, dass während der Pandemie bei manchen Teilen der Bevölkerung das Vertrauen in die Wissenschaft und Forschung verloren ging?
Die Öffentlichkeit wurde damit konfrontiert, dass Forscherinnen und Forscher nicht immer einer Meinung sind, dass sie sich untereinander widersprechen und Forschungsresultate nicht in Stein gemeisselt sind. Das hat das Vertrauen in die Wissenschaft geschwächt. Zumal in der Pandemie extrem schnell geforscht werden musste. Ausserdem werden die Forscher von einigen als Teil der Elite angesehen. Hier gibt es eine Selbstselektion – etwa wie bei den Journalisten.
Was heisst das genau – auch mit Blick auf die Ablehnung der etablierten Medien von mancher Seite?
Bei Journalistinnen und Journalisten etwa gibt es eine sehr starke Selbstselektion ins eher linke Milieu. Da ist die Repräsentativität der politischen Meinungen in der Gesamtbevölkerung – anders als etwa bei den Juristen – nicht gespiegelt. Auch hier gibt es eine Art Echokammer, das konnte man während der Pandemie sehr gut beobachten. Mittlerweile sind die Meinungen aber wieder vielfältiger.
Die Meinungsverschiedenheiten schienen im Laufe der Pandemie sogar viele Familien und Partnerschaften zu entzweien. Welche Auswirkungen hat das aus soziologischer Sicht?
Erst einmal muss man ja fragen, was das mit den Familien, Freundschaften oder der Beziehung macht. Der Dissens ruft natürlich extreme Konflikte hervor und spaltet sehr. Wenn die Fronten verhärten, nimmt der Kontakt oft ab. Allerdings besteht diese Gefahr immer, wenn verschiedene Weltanschauungen aufeinandertreffen. Viele Familien reden deshalb nicht mehr darüber, das ist manchmal besser.
Aber wird nicht allerorten der Ruf nach Dialog laut?
Ja, aber nicht zwingend in der Familie oder im Freundeskreis. Oft sind die Meinungen dort sehr gesetzt. Ich würde sagen: Die Gesellschaft muss wieder in den Dialog treten. Wobei ich sagen muss: Hier in der Schweiz zeigt sich die öffentliche Diskussion diverser, es wird auch über unbequeme Meinungen sehr stark diskutiert. Aber auch hier geschieht dies nicht unbedingt von Angesicht zu Angesicht.
Kann man die ideologische Spaltung durch die Pandemie eigentlich auf zwei Pole reduzieren?
Mit Blick auf Corona gibt es zwei Lager: Die einen sehen die Gesellschaft als Kollektivgut, zu dem jeder beitragen muss, etwa indem er sich impft und an die Regeln und den Lockdown hält. Die anderen argumentieren, dass in einer Gesellschaft Freiheitsrechte gelten, die man den Bürgern nicht nehmen kann — und dass man deshalb auch niemanden zum Impfen zwingen kann. Diese zwei Pole standen sich in der Debatte oft gegenüber: auf der einen Seite etwa die ethische Verpflichtung einer Gesellschaft, die Alten und Vulnerablen zu schützen – auf der anderen die Verpflichtung gegenüber Kindern und ihren überforderten Eltern.
Sie spielen auf die soziale Ungleichheit an, die viele durch die Pandemie wachsen sehen. Ist das auch eine Spaltung?
Spaltung würde ich nur bei Meinungen verwenden – aber ja, die soziale Ungleichheit nimmt zu. Schon vor Corona beobachteten wir, dass diese in westlichen Gesellschaften seit den 70er-Jahren ansteigt. Corona hat die soziale Ungleichheit weiter verschärft. Das Virus traf eben nicht alle gleich. Je bildungsärmer die Schicht, desto häufiger sind die Menschen erkrankt und gestorben.
Welche Gründe gibt es dafür?
Häufig arbeiten diese Menschen an Arbeitsplätzen, an denen sie dem Virus mehr ausgesetzt sind. Zum anderen wurde oft nicht die gleiche Vorsorge getroffen, oft hielt man sich nicht an die Massnahmen. Auch ob sich jemand impfen lässt, ist oft eine Frage der Bildung oder Sprachkenntnis. Die Chancenungleichheit ist gestiegen. Viele Eltern waren überfordert mit der Erziehung ihrer Kinder, etwa weil sie einfach an der Kasse sitzen mussten. Oder weil es zu Hause Gewalt gab.
Sind die Kinder davon am meisten betroffen gewesen?
Die Kinder haben oft extrem gelitten. Viele Kinder gingen im Homeschooling absolut verloren, viele mussten die Hausaufgaben etwa auf dem Handy erledigen. Es herrschten oft enge Wohnverhältnisse ohne Ruhe, es fehlten Bewegung und Sport. Zudem beobachteten wir eine Art «Rolle rückwärts» der Frau: Das betraf vor allem Frauen, die im Homeoffice arbeiteten und nebenher als Alleinerziehende sich um die Kinder kümmern mussten.
Viele reden von der «Generation Corona». Gibt es die aus Ihrer Sicht?
Ich denke schon. Weil es einen extremen Einschnitt für die Bildungschancen der Kinder gab. Die Trennung der Kinder aus bildungsstarken und bildungsschwachen Elternhäusern hat sich enorm verstärkt: Einerseits diejenigen, die es schaffen werden, andererseits jene, die extrem negativ markierte Effekte erfahren werden. Die sind jetzt schon abgehängt und werden weiter abgehängt. Das sieht man natürlich an der Generation – nicht nur an dieser, sondern auch an der nächsten und übernächsten. Denn soziale Ungleichheit wird weitergegeben und daher aus meiner Sicht stark ansteigen. Knapp gesagt: Es gibt Verlierer der Corona-Krise und Gewinner. Und der schon immer existierende Graben zwischen beiden ist durch die Pandemie viel breiter geworden.
Mal provokant gefragt: Gibt es auch positive gesellschaftliche Folgen der Pandemie?
Ja, einige. Zum Beispiel mit Blick auf ökologische Fragen. Man sah, dass es auch ohne Tausende von Dienstreisen geht. Das trug gerade bei reiseintensiven Managementberufen etwa zu einer enormen Entschleunigung bei, die Mensch, Familie und Umwelt guttut. Die Frage wäre: Lernen die Menschen daraus?
Was glauben Sie: Werden sich nach der Pandemie wirklich Dinge verändern – etwa in der Arbeitswelt?
Was wir sehen, ist etwa, dass Unternehmen sich in kürzester Zeit digitalisieren mussten, sie räumen ihren Mitarbeitern flexiblere Arbeitszeiten ein. Da bestanden vorher enorme Innovationsbarrieren in den Köpfen. Das zeigt: Es geht. In der Arbeitswelt gibt es also radikale Änderungen. Wir müssen nicht fünf Tage am Stück im Büro sitzen. Allerdings: Nur ein Viertel all jener, die ausschliesslich im Homeoffice arbeiteten, wünscht sich das in Zukunft zurück. Es gibt Statistiken zur Überarbeitung und Entgrenzung des Arbeitstages. Die Folge waren Belastungsstörungen wie Burnout oder Depressionen.